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Ann-Kathrins phantastische Bücherwelt

19. bis 22. März auf der Leipziger Buchmesse

Die kleine Nymphe – Das Lied des Gaukelspielers

Die kleine Nymphe

Alle Flüsse, ob groß oder klein, suchen das Meer. Aber die Reise dorthin ist es, die jeden Fluss einzigartig macht.

Ein phantastisches Kinderbuch von Ann-Kathrin Wasle

Mit Illustrationen von Vanessa Hahn

ISBN: 978-3-949198-20-5

Gebundenes Buch, 208 Seiten

Preis: 18 € (Print-Ausgabe), 7,99 € (E-Book)

Seit sie denken kann, lebt die kleine Nymphe am Quell eines Waldbachs. Schon immer fragt sie sich, wo ihr Gewässer wohl hinfließt. Wird es ein großer Fluss werden, der einmal das Meer erreicht?

Als nun die alte Weide ihren letzten Ast verliert, verspricht die Nymphe ihr, dass sie ihrem Fluss folgen und den Weidenzweig bis zum großen Wasser tragen wird. Nur begleitet von ihrem Freund, dem Fledermauser, macht sie sich auf die lange und abenteuerliche Reise.

Aber nicht jeder Fluss mündet einmal ins Meer – viele versickern unterwegs oder sie fließen in größere Gewässer ein. Vor der Nymphe liegt eine weite Reise und niemand kann sagen, ob sie ihr heißersehntes Ziel am Ende erreichen wird.

1. Kapitel
in dem die kleine Nymphe von ihrem großen Traum erzählt

Der Waldsee der kleinen Nymphe war nicht groß. Hättest du vom Rand aus einen Stein über das Wasser springen lassen und dich dabei geschickt angestellt, so wäre er sicherlich bis zum anderen Ufer gehüpft. Der Weiher war umringt von hohen Bäumen und Sträuchern, deren Äste weit über das Wasser ragten. Nur wenn die Nymphe den Blick zum Himmel wandte, konnte sie zwischen den Baumkronen die Sonne erspähen und in der Nacht die Sterne. Es war das einzige Stück Himmel, das sie kannte, denn sie hatte ihren Weiher noch nie verlassen.

Die kleine Nymphe hatte hier schon viele Sommer verstreichen sehen, in denen die Leuchtkäfer über dem Wasser tanzten, und kalte Winter, in denen die Rehe herbeikamen, um an dem glasklaren Eis zu lecken und ihren Durst zu stillen. Oft saß sie mit untergeschlagenen Beinen am Rand des Weihers und sah den Waldtieren bei ihren Spielen zu. Du hättest sie vielleicht für ein kleines Mädchen gehalten, mit großen moosgrünen Augen und einer zierlichen Stupsnase. Sie hatte blaugrüne Haare, die ihr wie Schlingpflanzen über die Schultern flossen, und trug ein Kleid aus Seerosenblättern.

Ihr Lieblingsplatz war ein breiter Stein neben dem Waldbach, der aus dem Weiher abfloss. Dort hockte die Nymphe oft stundenlang und sah dem Wasser hinterher, das zwischen Büschen und Moos gurgelnd durch den Wald plätscherte. Nur einen Steinwurf weit konnte sie dem Bachlauf mit den Blicken folgen, dann verschwand er hinter einem umgestürzten Baumstamm im Unterholz.

Die Nymphe fragte sich oft, wohin ihr Gewässer fließen mochte und was es auf seinem Weg wohl alles erlebte. Zu gerne wäre sie selbst hinausgegangen, um es herauszufinden …  Aber schließlich war sie hier an ihrem Weiher zuhause; sie war die Nymphe des Quells, aus dem sich der Flusslauf speiste.

»Es wird bestimmt einmal ein breiter Fluss«, behaupteten die Fledermäuse, die des Abends durch die Dämmerung huschten. »Mit vielen leckeren Mücken, die man darauf jagen kann.«

»Es wird ein tiefer Fluss, mit vielen Höhlen und Wurzelwerk auf dem Grund«, blubberten die Fische.

»Und Sträuchern und hohen Farnen am Ufer«, riefen die Mäuse und Hasen, »um sich darin zu verstecken.«

Und die kleinste der Fledermäuse – die mit dem eingerissenen Ohr – piepste: »Es wird der allergrößte, schönste Fluss überhaupt, so viel steht fest!« Herausfordernd sah sie sich um, ob wohl jemand wagte, ihr zu widersprechen. Doch niemand achtete auf sie, außer vielleicht den Leuchtkäfern, die in sicherem Abstand um sie her über das Wasser tanzten.

Wenn die Bäume über der kleinen Nymphe solche Reden hörten, schüttelten sie die Häupter, sodass der Wind zwischen den Blättern raschelte.

»Nicht alle Flüsse schaffen es, groß und breit zu werden«, erklärte die hohe Ulme, die immer ein wenig hochnäsig aussah. »Die meisten fließen irgendwann in andere, größere Flüsse ein.«

»Oder sie versickern«, fügten die Haselsträucher hinzu. »Sie geraten in einen Sumpf und kommen nie wieder daraus hervor.«

Versickern? Die kleine Nymphe schüttelte den Kopf. Ihr Fluss konnte nicht einfach in einem Sumpf versickern und auf Nimmerwiedersehen verschwinden! Das war gewiss nicht möglich.

»Was meinst du?«, fragte sie und ging hinüber zu ihrer Freundin, der alten Weide, die am Rand des Weihers direkt neben der Quelle stand. »Was wird aus meinem Fluss einmal werden?«

Die Weide raschelte mit ihren trockenen Zweigen und neigte sich zu der Nymphe herab, wie immer, wenn sie diese Frage hörte. Sie war schon sehr alt, sodass ihre Äste knackten, wenn sie sich bewegte. Auch ihre Stimme klang alt und knarzig, als sie nun sagte: »Dein Gewässer ist stark, kleine Nymphe, und seine Quelle ist klar. Es wird sicher nicht vor der Zeit versickern. Sei gewiss, dein Fluss wird dem Nordstern folgen und am Ende findet er seinen Weg zum Meer.«

Es war an einem Nachmittag Ende April; einer jener Frühlingstage, an denen der Regen in leichten Tropfen durch den Wald nieselte. Die meisten Tiere versteckten sich bei diesem Wetter in ihren Löchern und Höhlen, nur ein paar junge Amseln flatterten über das Wasser. Die kleine Nymphe saß am Rand des Weihers neben ein paar Kieselsteinen, die sie im Flussbett gesammelt hatte; sorgsam balancierte sie die glatten Steine aufeinander, um einen Turm daraus zu bauen. Währenddessen summte sie eine Melodie, die sie einmal von einer vorbeiziehenden Schwalbe gehört hatte.

Ein leises Piepsen brachte die Nymphe dazu, den Kopf zu heben. Zwei vorwitzige Eichhörnchenkinder waren aus ihrer Höhle zwischen den Zweigen der alten Weide geklettert und spielten nun hoch über ihr Fangen. Es war ein riskantes Spiel: Die meisten Äste des Baums waren längst abgestorben und brachen bei der kleinsten Berührung. Nur ein einziger Zweig an einem der unteren Knorpel schimmerte frisch und jung – der letzte gesunde Zweig, den die alte Weide besaß. Er war der ganze Stolz des Baums und die Tierkinder hüteten sich, diesen Ast für ihre Turnereien zu nutzen. Jetzt wagte das kleinere der Tiere einen besonders weiten Sprung – und landete mit einem lauten Platsch mitten im Wasser des Weihers. Die Nymphe lachte schallend auf, während das pitschnasse Eichhörnchen zum Ufer schwamm und zurück auf den Baum kletterte.

Da erklang hinter ihr eine vertraute Stimme: »Was für ein regnerischer Frühling. Die Gewässer stehen hoch.«

Überrascht drehte die Nymphe sich um. Die Worte waren von drüben am Ufer gekommen, dicht neben der alten Weide. Dort saß auf einem Baumstamm neben dem Weiher ein langer Kerl und ließ seine Beine über das Gewässer baumeln, ohne sich um den Regen zu kümmern. Es war der Nöck, der alte Wassermann, der auf seinen Wanderungen hin und wieder beim Nymphenquell vorbeikam. Er hatte lange, dunkle Haare, die ihm in dicken Zöpfen um die Schultern fielen, und unter der Nase einen breiten Schnauzbart. Seine Kleidung hing immer etwas zu weit um seine schlaksige Gestalt und auf dem Kopf trug er einen ausgebleichten Zylinder.

Die alte Weide hatte ihn schon oft einen Landstreicher geschimpft, doch die Nymphe mochte den sonderbaren Kerl und unterhielt sich gerne mit ihm. Wann immer er in der Gegend war, stattete er ihrem Weiher einen Besuch ab. Er setzte sich zu ihr, stopfte sich seine tönerne Pfeife und erzählte ihr, wie es draußen in der Welt stand.

»Wie schön, dich zu sehen«, begrüßte die Nymphe den Nöck.

Auch die beiden Eichhörnchen hatten ihn nun bemerkt; neugierig kletterten sie an seinem Mantel empor und versteckten sich zwischen den dichten Haaren. Der Nöck rümpfte die Nase, doch das machte den Tierkindern nichts: Schon war das größere von ihnen auf seinen Zylinder geklettert und sein Geschwisterchen bemühte sich nach Kräften, ihm zu folgen.

»Du solltest hören, wie es allerorten schäumt und gurgelt«, erzählte der Nöck gelassen. »Die Flüsse laufen über von all dem Wasser, das aus den Bergen strömt. Es ist gerade die richtige Zeit, sich auf die Reise zu machen, frei und heimatlos wie die Schwalben.« Er nahm einen tiefen Zug von seiner Pfeife und ließ den Rauch hinauf zu seinem Hut schweben. Hustend plumpste das kleinere der Eichhörnchen herunter und kullerte über den Ärmel des Nöcks zu Boden.

»Ich habe aber eine Heimat«, erwiderte die Nymphe näselnd. »Und gerade fühle ich mich hier an meinem Weiher sehr wohl.« Sie hielt sich beim Reden die Nase zu, als ob sie den Pfeifenrauch nicht ertrug. In Wahrheit mochte sie den Geruch von altem Tabakdunst, der den Nöck umfing, aber dennoch bemühte sie sich, ihn daran zu erinnern, dass das Rauchen keine schöne Angewohnheit war.

Doch der Nöck war gut darin, ihre Andeutungen zu ignorieren. Gelassen nahm er noch einen tiefen Zug, sodass der Rauch wie Nebeldunst zwischen den Bäumen aufstieg. »Wenn du das sagst«, antwortete er ungerührt. »Aber fragst du dich nicht manchmal, was dein Fluss da draußen so alles treibt?« Er nickte hinüber zur anderen Seite des Sees, wo der Waldbach sprudelnd im Unterholz verschwand. »Ich dachte, du hättest Lust, selbst einmal hinauszuwandern.«

Die Nymphe folgte seinem Blick zu dem kleinen Bächlein. Es sah wirklich verlockend aus, wie das Wasser gurgelnd in den Wald hineinlief. Sie nahm die Finger von der Nase und seufzte leise.

»Soll ich dir etwas verraten?«, fragte sie den Nöck und blickte ihn aus großen Augen an. »Manchmal wünschte ich, ich könnte mich einfach auf die Reise machen – dem Fluss hinterher, oder besser noch, einen ganz eigenen Weg. Ich möchte selbst sehen, was es draußen alles zu entdecken gibt!« Sie biss sich auf die Lippe. »Aber es geht ja nicht. Ich muss schließlich hier bei meinem Gewässer bleiben.«

»Ich denke, du machst es dir zu schwer.« Der Nöck schüttelte den Kopf, sodass sich das zweite Eichhörnchen nur mühsam an der Krempe seines Huts festhalten konnte. »Wer sagt überhaupt, dass dein Weiher ohne dich nicht klarkommen würde?« Er machte eine vage Bewegung mit seiner Pfeife in Richtung des plätschernden Quells. »Ob dein Fluss nun zum Meer fließt oder nicht, das wird sich schon zeigen. Folge du nur deinem Weg und denk nicht so viel an morgen.«

Die alte Weide hinter ihnen raschelte bei diesen Worten unruhig, so als würde die leichtsinnige Rede dem Baum nicht gefallen. Die Fledermäuse in ihren Astlöchern, die nun am Abend langsam erwachten, schauten träge aus ihren Höhlen. Doch der Nöck scherte sich nicht darum.

»Du kannst den Lauf deines Flusses nicht verändern, kleine Nymphe«, bekräftigte er seine Worte. »Du kannst ihm nur folgen und sehen, wohin er dich führt.«

»Papperlapapp!«, klang es da von der Weide herüber. »Schluss mit dem dummen Geschwätz. Unsere Nymphe hat eine Aufgabe und sie wird ihr Gewässer nicht im Stich lassen. Sie wird hier bleiben, an ihrem Weiher – da, wo sie hingehört.«

Der Nöck nickte zu dem alten Baum hinüber, als wollte er ihm seinen Respekt ausdrücken. »Wie du meinst«, sagte er ungerührt. Die kleine Nymphe sah, wie er ihr dabei zuzwinkerte. Gelassen zog er an seiner Pfeife, dann hob er den Kopf zum Himmel. »Der Regen zieht weiter«, stellte er fest. »Ich mache mich wieder auf den Weg.«

Damit nahm er seinen Hut ab und hielt ihn zu Boden geneigt, sodass auch das zweite Eichhörnchen hinabklettern konnte. Mit einer angedeuteten Verbeugung zu der Nymphe setzte er ihn wieder auf, griff sich aus dem Weiher einen Kiesel und legte ihn sorgsam auf den Steinturm, den sie errichtet hatte. Dann stopfte er seine Pfeife und wanderte summend davon, während ihm die Regentropfen den Mantel hinabliefen.

Die kleine Nymphe schlang ihre Arme um die Knie. Gedankenverloren blickte sie dem Nöck hinterher, wie er sich durch Schlamm und Sträucher seinen Weg bahnte, der nächsten Reise entgegen.

»Ich mag ihn«, sagte sie leise.

Die Weide schüttelte ihre Zweige, sodass die Regentropfen in einem Schauer herabrieselten. Mit einem Quieken brachten sich die beiden pitschnassen Eichhörnchen in Sicherheit.

»Papperlapapp«, grummelte die Weide. »Er ist ein Störenfried, mit seinen Geschichten und seinen sonderbaren Ideen. Er mag kommen und gehen wie der Regen, aber du hast ein Gewässer, um das du dich sorgen musst.«

Doch die kleine Nymphe hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie strich mit dem Finger über das Wasser, auf dem die letzten Regentropfen ihre Kreise bildeten.

»Das Meer …« Nachdenklich kratzte sie sich an der Nase, dann wandte sie sich zur Weide. »Was weißt du davon? Hast du es je gesehen?«

Die Weide seufzte – ein tiefer, knarziger Ton, der ihren ganzen Stamm zum Ächzen brachte. »Gesehen? Nein, kleine Nymphe. So lange ich lebe, habe ich deinen Weiher nie verlassen. Ich habe nur gehört, was mir die Schwalben und die Wildgänse auf ihrem Zug erzählen. Und ich kenne die Geschichten der uralten Bäume – jener, die hier waren, lange vor meiner Zeit.«

Mit einem Knarren beugte sie sich zum Wasser, wo die Nymphe saß. Vorsichtig schlichen sich die Eichhörnchen wieder aus ihrer Höhle und auch die eine oder andere Fledermaus öffnete verschlafen ein Auge. Sogar die Leuchtkäfer hielten in ihrem Tanz inne und kamen näher an den alten Baum heran. Keiner von ihnen wollte verpassen, was die Weide zu erzählen hatte.

»Das Meer …«, hob die Weide an und atmete tief ein, wie um sich zu besinnen. »Sie sagen, das Meer sei das Größte, was es auf der Welt gibt. Es ist ein tiefes Gewässer, das sich von der einen Seite der Welt zur anderen zieht, überspannt von einem weiten Himmelszelt. Von allen Seiten fließen Flüsse hinein und füllen es mit neuem Leben.«

Und so erzählte die alte Weide den Waldtieren vom Meer. Sie erzählte von dem endlosen Blau, das sich in alle Richtungen erstreckt – mehr Wasser, als irgendjemand von ihnen je gesehen hatte. Von wilden Sturmfluten und Orkanen, die bis ans Land peitschen und den Strand mit hohen Wellen bedecken. Und von den hellen Lichtern hoch im Norden, die bunt am Himmel schimmern. Sie erzählte, bis die letzten Regentropfen auf den Ästen getrocknet waren, bis die Dämmerung den funkelnden Sternen wich.

Mit glänzenden Augen saß die kleine Nymphe da, die Arme um ihre Knie geschlungen, und lauschte den Worten des alten Baums.