Das Lied des Gaukelspielers – Leseprobe

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Das Ende der Reise

Ruhelos wand sich der Fluss durch die Ebene, ein quecksilbernes Band im Schein der Frühlingssonne. Ohne in ihrem Schritt innezuhalten, betrachtete die Fremde den Lauf der Saale; wie sie in einem breiten Strom über ihre Ufer trat, überquellend vom Schmelzwasser aus den Bergen, zwischen Ackerflächen und dichten Wäldern. Und in der nächsten Flussbiegung erblickte die Frau das Dorf.

Es lag stumm und wie verlassen am Rand der Felder. Eng drückten sich die Häuser aneinander, abweisend gegen jede äußere Bedrohung und doch jedes für sich allein. Bei dem Anblick gruben sich die Finger der Reisenden in ihren Mantelstoff und ihre Züge versteiften sich. Schwer zu sagen, ob sie das Bild des unnahbaren Dorfes so verunsicherte oder der Gedanke an den Mann, den sie dort zu finden hoffte. Was für ein Mensch mochte es sein, der sich diesen abgelegenen Fleck Erde als Rückzugsort erkoren hatte? Doch was sie auch erwarten mochte, sie zögerte nicht in ihrem Schritt; entschlossener denn je ging sie dem Ziel ihrer Wanderung entgegen.

Erst als sie zwischen die niedrigen Häuser trat, hielt die Frau für einen Moment inne und atmete tief ein. Die Luft war frisch und kalt und roch nach Regen. Am Morgen hatte es einen heftigen Gewitterschauer gegeben, der sie auf offener Landstraße überrascht und vollkommen durchnässt hatte. Doch nun, da die Aprilsonne wieder unschuldig vom Himmel schien, kündeten nur noch die Tropfen, die von den Dächern fielen, von dem vergangenen Unwetter. Einsam wandelte sie über die schlammige Straße, vorbei an versperrten Türen und verhangenen Fenstern. Das Dorf war nicht verlassen; die ordentlich gepflegten Vorgärten und der Rauch, der aus den Hütten stieg, zeugten klar von menschlicher Behausung. Aber dennoch war auf der Straße kein Mensch zu sehen, so als würde die Ankunft einer Fremden ausreichen, um alle Einwohner in ihre Häuser zu treiben.

Suchend blickte die Frau sich um, ohne zu wissen, in welche Richtung sie sich nun wenden sollte. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst – es war offenbar, dass diese abgeschottete Umgebung nicht das war, was sie sich vom Ziel ihrer Reise versprochen hatte. Das Schmatzen ihrer Wanderstiefel auf der Straße hielt inne und für einen langen Moment wurde es still um sie her. Noch konnte sie sich einreden, dass ihre Suche vergebens war; dass es ihr nicht gelungen war, den sagenumwobenen Fährmann zu finden – keine glorreiche Aussicht, aber besser, als am Ende ihrer Reise zurückgewiesen zu werden. Aufs Neue krampften sich ihre Hände in den Mantelsaum.

Ein trotziges Schnauben war zu hören, als sie schließlich weiter ausschritt. Ihre Finger fuhren zu dem Anhänger über ihrem Mantel und ihr Mund nahm einen entschlossenen Zug an. Ob die Zweifel nun ihr selbst entsprangen oder ob ein kunstvoller Zauber dafür verantwortlich war, am Ende machte es keinen Unterschied: Sie war mit einer festen Absicht unterwegs und sie war nicht bereit, sich auf der letzten Wegstrecke von ihrem Ziel abbringen zu lassen.

Die Frau hatte das Dorf schon zur Hälfte durchquert, ehe sie dem ersten Bewohner begegnete. Auf der linken Straßenseite war ein Fenster halb geöffnet und ein Mann in schmutzig-braunem Leinenhemd war damit beschäftigt, den hölzernen Rahmen auszubessern. Als er ihre Schritte hörte, hielt er in seiner Bewegung inne und sah der Fremden misstrauisch entgegen.

»Guten Tag, werter Mann«, sprach sie ihn an, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. »Könnt Ihr mir vielleicht helfen? Dies ist doch der Ort, den man Saalenau nennt?«

Der hagere Kerl musterte sie von oben bis unten, er betrachtete ihren weiten, purpurnen Mantel, den Anhänger über ihrem Kleid und die Goldspange, die ihre feuchten Locken zusammenhielt. Dann gab er ein abschätziges Schnauben von sich, zog den Kopf zurück und schloss den Fensterrahmen mit einem lauten Knall.

Die Frau hielt einen Moment inne, als wollte sie abwarten, ob sich das Fenster noch einmal öffnen würde – dann schlang sie ihren Umhang fester um die Schultern und machte sich wieder auf den Weg.

Nie war ihr auf ihrer Reise eine solche Abweisung entgegengeschlagen. Man schrieb das Jahr 1674; die jahrzehntelang andauernden Kämpfe, die sie nun den Dreißigjährigen Krieg nannten, waren seit vielen Jahren offiziell beigelegt. Damals, nach Kriegsende, hatten viele Dörfer wie ausgeblutet dagelegen, doch in den meisten Fällen hatte die vergangene Zeit ausgereicht, das Land mit neuem Leben zu füllen und das Gemüt des Bauernvolks zu besänftigen. Nicht so hier: Kein Kindergeschrei schallte durch die Siedlung, kein freundliches Wort drang aus den ärmlichen Hütten. Es war, als hätte sich die Dorfgemeinschaft auf Abgeschiedenheit eingeschworen und stehe allem Fremden in äußerster Wachsamkeit gegenüber.

Die Frau ging weiter, über die schmale Straße an dem verlassenen Kirchhof vorbei. Einige Häuser weiter sah sie ein altes Weib, das gebückt in seinem Garten stand und Unkraut aus der Erde zupfte. Dieses Mal handelte die Reisende bedachter: Sie versteckte die Kette mit dem glänzenden Anhänger unter ihrer Kleidung und stellte sich hinter ein Ginstergebüsch, sodass die Alte den edlen Mantel nicht auf den ersten Blick bemerkte. Dann erst beugte sie sich zu der konzentriert arbeitenden Frau hinüber.

»Ihr habt da einen vorzüglichen Garten«, sagte sie in bewunderndem Tonfall.

Die Dorfbewohnerin sah kurz zu ihr hin, ohne sich dabei aufzurichten. Ungeduldig schüttelte sie den Kopf und wandte sich wieder dem Unkraut zu.

Die Fremde seufzte mit Nachdruck. »Wenn ich nur wüsste, wie ich meine eigenen Pflanzen so groß und gepflegt bekommen soll. Aber in meinem Garten vergreifen sich die Tiere an dem Gemüse, ehe es halb so groß ist wie Eures.«

Mit misstrauischem Blick richtete die Alte sich auf. Sie sah von ihren Rüben zu der Frau auf der Straße hinüber und wieder zurück, dann hob sie die Schultern.

»Ist keine Kunst, musst nur zupfen und immer wieder zupfen. Und Zäune aufstellen, dass die Tiere nicht rankommen.«

Die Fremde nickte andächtig und bewunderte weiter den Garten, ohne der anderen direkt ins Gesicht zu schauen. »So wird es wohl gehen. Weiß Gott, ich wünschte wirklich, ich könnte mein Gemüse so groß bekommen.«

Einen Moment lang standen sich die beiden Frauen stumm gegenüber. Schließlich zuckte die Einheimische erneut mit den Schultern und bückte sich, um das Unkraut zwischen den Rüben herauszuziehen.

Die fremde Frau räusperte sich lautstark. »Nun, ich werde mich wohl wieder auf den Weg machen.« Sie warf der Knienden einen kurzen Blick zu und fragte wie von ungefähr: »Wie komme ich wohl am besten zur Hütte des Fährmanns?«

Die Alte musterte sie zweifelnd, dann schüttelte sie den Kopf. »Willst nicht zur Fähre. Der Weg ist überschwemmt und drüben hat es nichts als Schlamm und Wald. Wirst dir dein hübsches Kleidchen schmutzig machen. Geh zur nächsten Brücke, einige Meilen hinunter, da führt die Straße weiter.«

Die Fremde lachte und fuhr mit der Hand über ihren Mantel. »Ja, du hast schon recht, den Mantel werde ich wohl verdrecken. Aber ich denke, ich will trotzdem die Fähre nehmen. Sagst du mir den Weg?«

Ein weiteres Mal richtete sich die Bauersfrau auf. Sie warf das gejätete Unkraut zu dem Rest auf einen Haufen, klopfte sich die Hände ab und betrachtete die Frau von oben bis unten. »Wenn du zum Fährmann willst, dann musst du da lang gehen.« Sie wies in eine Seitenstraße, die wenige Schritte entfernt zwischen den Häusern hindurchführte. »Dort hinein, und dann durchs Sumpfland hinüber zum Fluss. Führt kein anderer Weg dahin.«

»Natürlich. Ich danke dir.« Die Reisende nickte, als wäre ihr der Weg selbst gerade wieder eingefallen. Sie wollte sich schon umwenden, da hob die alte Frau ihren Zeigefinger und sah ihr mahnend entgegen.

»Darfst ihn nicht bezahlen, das weißt du. Wenn er vorher Geld sehen will, gib es ihm nicht. Nicht, eh er dich auf der anderen Seite abgesetzt hat.«

Mit plötzlicher Neugierde lehnte sich die fremde Frau zu der Einheimischen hinüber. »Wieso, meinst du, soll ich ihn nicht bezahlen? Was würde geschehen, wenn ich es täte?«

Kopfschüttelnd beugte sich die Alte wieder zu ihren Rüben hinunter und machte sich daran, das störende Grün aus dem Boden zu rupfen. »Weil er dich betrügen wird, was wohl sonst?«, murmelte sie ärgerlich, ohne aufzublicken. »Wer ist so närrisch und zahlt, bevor er etwas dafür bekommt?«

Die Frau atmete ein, in ihrem Blick eine Mischung aus Zufriedenheit und banger Erwartung. Ohne die Alte mit ihren Rüben weiter zu beachten, ging sie hinüber zu dem verwinkelten Pfad, der an windschiefen Hütten und alten Zäunen vorbei in Richtung des großen Stromes führte, zu dem Ziel ihrer Reise.

Nach wenigen Schritten mündete die Gasse in einen dicht überwucherten Waldweg. Schwarzdorn und Ginster reckten ihre Äste über den Wegesrand, als wollten sie den schmalen Pfad verschlingen, und von den hohen Zweigen fielen schwere Tropfen auf die Reisende. Der Fluss konnte nicht mehr weit sein: War der Weg bislang schon schlammig gewesen, so wurde es nun bei jedem Schritt schwerer, den Pfad zwischen den Wasserlachen zu erkennen. Noch ehe sie ein Dutzend Schritte getan hatte, waren ihre Stiefel tief in den Schlamm eingesunken, während die Brombeerranken und Schlehen wie scharfe Klauen nach ihrem Mantel griffen. Ein paar einsame Früchte des letzten Winters hingen noch an den Zweigen und hinterließen blutige Spuren auf ihrem Rock, wie eine Drohung des Unterholzes, um sie am Weitergehen zu hindern. Die Frau ließ sich davon nicht aufhalten. Ob es nun die gewöhnlichen Hürden eines dichten Waldes waren oder eine letzte Bemühung, sie von ihrem Ziel abzuhalten, sie war nicht bereit, nach all der Zeit und Mühe vor ein paar Dornenranken und etwas Schlamm zurückzuweichen.

Weiße Nebelschwaden zogen durch den Wald und tauchten die Umgebung in ein bleiches Licht. Die Reisende sah mit an, wie der Nebel dichter wurde, wie er Stein und Baum verschlang, bis sie den überschwemmten Weg zu ihren Füßen kaum noch erkennen konnte. War der Wald zuvor schon ungewohnt ruhig gewesen, so wurde die Stille nun geradezu unheimlich. Um sie herum war kein Laut zu hören, weder der Gesang der Vögel noch das Rauschen der Äste im Wind. Nicht einmal der Klang ihrer eigenen Tritte war auf dem überschwemmten Weg zu hören. Sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.

Mit achtsamer Hand schob sie zwei Holunderzweige beiseite, die quer über den Waldweg wuchsen. Die Bewegung der Äste verwehte die Nebelschwaden und als sie die Augen wieder auf den Weg richtete, sah sie den mächtigen Flusslauf nur einen Steinwurf entfernt vor sich liegen. Der Regen hatte den Fluss aufgeschwemmt, sodass der Weg kaum noch auszumachen war – nur ein paar Weidenbäume und das Farngras, das aus dem sumpfigen Wasser emporragte, zeigten ihr, wie weit sie sich vorwagen konnte. Das andere Ufer war durch den Nebel nicht zu erkennen, so breit war der Strom und so dicht wogten die undurchsichtigen Schwaden. Sie breiteten sich aus und trieben wieder zurück, sodass man von der anderen Uferseite nur hin und wieder einige Baumstämme oder die herabhängenden Äste einer Weide sehen konnte. Unwillkürlich suchte die Hand der Frau nach dem Anhänger unter ihrem Mantel; mit klammen Fingern öffnete sie die Goldkette und ließ sie in die innere Tasche ihres Umhangs gleiten. Hier draußen war es nicht ungefährlich, etwas so Persönliches offen zur Schau zu tragen. Dann stapfte sie weiter durch das sumpfige Wasser, das den Pfad mehrere Fingerbreit bedeckte, um die letzten Schritte bis zum Ufer hinter sich zu bringen.

Am Rand des Flusses, ganz am Ende des überschwemmten Waldweges, stand eine verwitterte Holzhütte. Der Großteil des einfachen Baus saß auf einem Fundament aus festen Holzstelen, die weit in den Fluss hineingebaut waren, sicher vor Sumpf und Hochwasser. Die Frau konnte sehen, wie sich die Wellen an den Balken teilten, doch es drang immer noch kein Laut herüber. Aufs Neue wurde ihr bewusst, dass der gesamte Fluss in vollkommener Stille vor ihr lag: Weder das Fließen des Stroms noch das Schwappen der Wellen am Ufer waren zu hören.

Die Holzhütte erschien dunkel und abweisend, und so versuchte die Frau gar nicht erst, an der fest verrammelten Tür zu klopfen. Zu ihrer Rechten sah sie einen schmalen Bretterweg, der an der Hütte vorbei hinaus auf das Wasser führte. Sie folgte dem engen Steg, schob sich an der schmutzigen Hauswand entlang und erreichte die Hinterseite des Gebäudes, wo ein Vorbau aus ausgetretenen Holzplanken sich einige Ellen über den Fluss erstreckte. Am Ende der Plattform, fest an den dicken Pfosten des Stegs angebunden, lag eine Barke, die noch weit älter wirkte als das heruntergekommene Haus. Sie war aus groben Planken zusammengefügt, blankgetreten von zahllosen Füßen, die im Laufe der Jahrzehnte über die Holzbohlen gewandert waren. Fast hätte man meinen können, dass die Hütte mitsamt ihrem Vorbau zu der alten Fähre gehörte und nicht umgekehrt. Und am Rand der Plattform neben dem Holzpfosten hockte der Fährmann, ein Bein zum Wasser hinabhängend und eines auf das schwere Gefährt gestützt. Erst als die Fremde zwei Schritte von ihm entfernt stand, richtete der alte Mann sich auf und wandte sich zu ihr um.

Als sie seinen Blick auf sich spürte, musste die Frau schlucken. Sie brachte sich dazu, noch einen Schritt auf ihn zuzugehen, auch wenn ihr das Herz bis zum Hals schlug. Forsch streckte sie das Kinn vor und zwang sich, den Fährmann in aller Ruhe von oben bis unten zu mustern.

Im ersten Augenblick hatte sie ihn für einen alten Mann gehalten, einen Greis weit jenseits der Blüte seiner Jahre. Doch sie erkannte schnell, dass dieser Eindruck trog: Die Falten, die das verhärmte Gesicht zeichneten, die gebückte Haltung und der müde Blick – all das war nur eine Illusion, mit der sich der Fährmann umgab. Nein, nicht sein Blick, verbesserte sich die Frau. Der Blick war wirklich alt und müde – zumindest der des rechten Auges, mit dem er sie ansah. An der Stelle seines linken Auges konnte sie nur einen dunklen Schatten ausmachen. Wie der Rest seiner Aufmachung war es mit einem falschen Schein überzogen.

Auch wenn die Illusion sie nicht zu täuschen vermochte, konnte sie doch den starken Willen spüren, mit dem der Fährmann das Gaukelspiel aufrechterhielt. Obgleich sie ihn zum ersten Mal sah, zweifelte sie nicht daran, dass sie das Ziel ihrer Wanderung erreicht hatte. Dies war der Mann, von dem ihr Ziehvater ihr berichtet hatte, vor dem er sie gewarnt hatte, wenn sie als Kind zu vorwitzig gewesen war. Auf der Suche nach ihm hatte sie die letzten Jahre die Lande durchquert, war einem Hinweis zum nächsten gefolgt, in der Hoffnung, endlich Antworten auf ihre Fragen zu finden.

Der Fährmann richtete sich mit einer langsamen Bewegung auf und drehte sich ganz zu ihr um. »Nun?«, fragte er knapp. »Was wollt Ihr?«

Die Reisende merkte, dass sich ihr Mund geöffnet hatte, und schloss ihn hastig. Vergebens suchte sie in der Miene des fremden Mannes nach einem Funken der Erkenntnis und ihr Hals wurde eng. Wie hatte sie annehmen können, dass diese Begegnung all der Mühe und der jahrelangen Erwartung gerecht werden konnte?

Mühsam riss sie sich aus ihrer Starre und trat neben den Fährmann an den Rand der Planken. »Einen guten Tag, werter Mann.« Sie nickte würdevoll, bemüht, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. »Kannst du mich wohl mit der Fähre übersetzen?«

Der Fährmann spuckte ins Wasser, dann sah er die Fremde aus einem zusammengekniffenen Auge an. »Könnt Ihr zahlen?«

»Natürlich. Am Ende der Reise, wie es Brauch ist.«

Sie erwartete, dass ihr Gegenüber widersprechen würde, doch er nickte nur, griff nach der langen Stange, die neben der Fähre im Wasser lehnte, und stieg auf das Boot hinüber. Mit ungeduldiger Geste bedeutete er der Frau, ihm zu folgen.

Sie ignorierte seinen Wink und musterte ihn weiter angespannt. »Ich habe gehört, dass es ein Stück flussaufwärts einen alten Friedhof gibt, oben im Sumpfgebiet – das stimmt doch, nicht wahr?«

Schlagartig hielt der Fährmann inne.

Die Reaktion entlockte ihr ein Lächeln. Gelassener fuhr sie fort: »Jawohl, ein Friedhof mit einer alten Kapelle, der nicht ohne Weiteres zu finden ist … Kannst du mich wohl dort hinfahren?«

Ihr Gegenüber sah wortlos auf den Fluss hinaus, als suchte er vergebens, den Nebel zu durchdringen. Dann wandte er sich wieder zu ihr um. »Der Weg durch das Sumpfland ist länger und anstrengender«, sagte er endlich. »Und er kostet mehr. Wenn ich müde werde, müsst Ihr die Stange übernehmen.«

»Willst du das wirklich?« Unbeirrt erwiderte die Frau seinen Blick und endlich schien die alte, gebrechliche Maske ein wenig zu bröckeln. Sie nickte zufrieden. »Wir werden über den Preis reden, wenn du mich hinübergesetzt hast.«

Regungslos ruhte das Auge des Fährmanns auf der jungen Frau. »Wie ist dein Name?«, fragte er dumpf.

»Und wie lautet der deine?« Sie lächelte erneut, sicher, dass sie auf ihre Frage keine Antwort erhalten würde. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Wirst du mich nun hinüberbringen oder nicht?«

Zum zweiten Mal wies der Fährmann ihr mit der Hand, zu ihm auf die Fähre zu steigen. Dieses Mal folgte sie seiner Geste und ließ sich ihm gegenüber im Bug des Bootes nieder.

Das Gefühl der schwankenden Holzbalken weckte alte Erinnerungen. Unwillkürlich dachte sie an langvergangene Tage, da sie als Kind auf den Brettern einer zierlichen Barke gesessen hatte, neben sich die hohe Gestalt ihres Ziehvaters. Und doch war nun etwas anders – ihr kam es vor, als würden sich die hölzernen Planken unter ihren Füßen nicht so bewegen, wie sie erwartet hatte; als läge die Fähre fester auf dem Wasser auf, als es eigentlich möglich sein sollte. Erst als sie zum Rand des Bootes hinübersah, erkannte sie, dass das Gefährt an einer dicken, straff gezogenen Leine hing, die sich quer über den Fluss spannte, vom Haus des Fährmanns bis hin zum gegenüberliegenden Ufer. Durch den Nebel konnte sie die Silhouette des stämmigen Balkens erkennen, der an der anderen Uferseite fest in den Boden gerammt war.

»Du solltest hier draußen niemandem den Rücken zuwenden.«

Die Worte ließen sie aufschrecken. Als sie sich zu dem Fährmann umdrehte, sah sie, dass er dabei war, die schweren Riemen zu öffnen, die die Fähre an dem Seil festhielten. Offenbar war dies nicht der Weg, den sie nehmen würden.

»Niemandem – auch dir nicht?«, fragte sie und sah den Fährmann forschend an.

»Mir ganz besonders nicht.« Damit löste der Mann die letzte Schlinge, die das Boot am Ufer hielt.

Die Frau griff haltsuchend nach der Reling. Sie sah, wie die Uferströmung an den Holzplanken zog, doch statt dass das Gefährt mit dem Strom abtrieb, verharrte es reglos im Wasser. Jetzt erst erkannte sie, dass die Stocherstange nicht einfach im Fluss lehnte, sondern tief in den Uferschlamm gegraben war, um die Fähre an ihrem Platz zu halten. Nun endlich griff der Fährmann nach der Stake und mit einer sicheren Bewegung drückte er das Boot fort vom Steg.

Erst langsam und widerstrebend, dann immer müheloser löste sich das Gefährt von dem hölzernen Landungssteg. Es bewegte sich schräg nach rechts gegen die Strömung, dorthin, wo der Nebel über dem Fluss am dichtesten hing. Das andere Ufer war wieder ganz in den milchigen Schwaden verschwunden. Als die Frau zu dem Fährmann hinüberblickte, sah sie, dass auch die Hütte hinter ihnen immer weiter im Nebel versank, bis um die Fähre her nichts mehr zu erkennen war als das dunkle Wasser des Flusses. Sie fühlte, wie ihr Herz heftiger schlug. Es war, als wären all ihre Sinne gleichermaßen von den weißen Schwaden eingehüllt. Sie konnte nichts sehen außer der Gestalt des Fährmanns, sie hörte nichts als den Klang der Stake, die er in regelmäßigen Abständen ins Wasser senkte, und spürte nur den dumpfen Stoß, wenn der Stab sich erneut vom Flussbett abstieß.

Die Zeit zog in schweren Schwaden über das Wasser, als wollte sie mit dem undurchsichtigen Nebel wetteifern. Die feuchte Luft ließ die Reisende frösteln, sodass sie sich fester in ihren gefütterten Mantel wickelte. Immer wieder schaute sie zu dem Fährmann hinüber, in der Hoffnung, dass er das Wort ergreifen würde. Doch der sah weiter mit verschlossener Miene in den dichten Nebel, während er die Barke mithilfe der Stocherstange gegen die Strömung bewegte. Nur an seinem Blick konnte sie erkennen, dass auch ihn die betäubende Stille nicht ungerührt ließ: Immer wieder suchte sein rechtes Auge den undurchsichtigen Nebel ab und bisweilen bemerkte sie, wie er ihr in einem scheinbar unbeobachteten Moment einen kurzen Blick zuwarf.

Endlich hielt die Frau das Schweigen nicht mehr aus. »Wie lange …« Sie räusperte sich, um die Unsicherheit aus ihrer Stimme zu vertreiben. »Wie lang wird die Fahrt dauern?«

»Wer kann das sagen? Der Ort, den du suchst, liegt weit draußen im Sumpfland.«

Der Fährmann sah nur für einen Moment zu ihr hinüber, doch der kurze Blick reichte aus. Sie hatte in seinem Auge den Spiegel ihrer eigenen Unsicherheit gesehen und jäh wurde ihr bewusst, dass der alte Mann dieses Zauberwerk nicht besser durchdrang als sie. Der Bann, der über dem Wasser lag, war tief und uralt; er musste weit stärker sein als der Fährmann selbst. Beinahe fühlte sie sich erleichtert – in dieser unwirklichen Umgebung war ihr Gegenüber keinen Deut mächtiger als sie.

Wie als Reaktion auf diese Erkenntnis schien sich die Szenerie um sie herum zu verschieben. Hatte sie den Nebel kurz zuvor noch als einschüchternd empfunden, als feindlich und undurchdringlich, so kamen ihr die weißen Schwaden nun schützend vor – ein Schleier, der die raue Welt vor ihr versteckte und ihr einen Augenblick vollkommener Ruhe bot.

Die Reisende lächelte, während sie die feuchte Luft tief in ihre Lungen sog. Mit einem Mal fühlte sie sich, als sei sie nach einer langen Wanderung endlich nach Hause gekommen. Sie war beinahe selbst überrascht, als ein heiseres Lachen aus ihr herausbrach.

Der trockene Ton klang in der Stille des Nebels erschreckend laut über das Wasser. Unwillig sah der Fährmann auf. »Was?«

»Ach nichts, es ist nur so ruhig hier draußen.« Sie ließ die Worte unbeschwert klingen, um die Stille ebenso wie ihre eigene Angespanntheit zu durchbrechen. Mit betonter Gelassenheit lächelte sie ihm zu. »Magst du mir nicht etwas erzählen? Vielleicht darüber, wie du zu diesem einsamen Beruf gekommen bist?«

Die Frau hielt dem Blick des Fährmanns stand, so lange, bis er unwillig den Kopf abwandte. Bedauernd hob sie die Schultern.

»Ein Jammer. Aber wenn du nichts preisgeben willst, dann gibt es wohl kaum eine Möglichkeit, mehr zu erfahren, nicht wahr?« Sie lehnte sich auf der hölzernen Bank zurück und fuhr fort, ohne den alten Mann aus den Augen zu lassen: »Sicher, wenn ich einer jener zauberkräftigen Wanderer wäre, von denen man erzählt, dass sie unbemerkt die Lande durchstreifen, dann wäre es etwas anderes. Man sagt, niemand wäre vor ihrem durchdringenden Blick sicher – es sei denn, er selbst verstünde etwas von den geheimen Künsten.« Gespannt atmete sie ein und musterte ihr Gegenüber.

Der Fährmann stieß die lange Stange ins Wasser und zog sie wieder heraus, so als hätte er ihre Worte nicht gehört.

Mit einem Seufzen blickte die Frau auf den nebelbedeckten Fluss. Als sie fortfuhr, klangen ihre Worte leise, eher an sich selbst als an ihren stummen Begleiter gerichtet. »Es heißt, dass kaum ein Herr, ob von weltlicher oder göttlicher Gnade, ohne solch einen zauberkundigen Ratgeber auskommen kann. Denn die Macht dieser Zauberer ermöglicht es ihnen nicht nur, fremde Gedanken und Scheinbilder zu durchschauen. Vor allem sind sie im Stande, eigene Schleier zu erschaffen, Spiegelwelten, die die Menschen dazu bringen, zu glauben, was immer man sie glauben machen will – sei es, dass sie sehen, was nicht da ist, dass sie hören, was sie in den Wahnsinn treibt, oder spüren, was sie von innen her umbringt.«

Sie schwieg und ließ ihren Blick über die nebelüberzogene Wasserfläche schweifen. Die Stille umschloss die Fähre von Neuem. Nichts war zu hören außer dem dumpfen Klang der Stake, die Stoß um Stoß auf dem Grund des Flusses auftraf und das Boot vorantrieb.

Die Frau stieß die Luft wieder aus. Sie hatte gehofft, den alten Mann aus der Reserve zu locken, ohne ihm dabei gleich ihren größten Trumpf zu offenbaren. Für einen Moment überlegte sie, ob sie das Thema fürs Erste fallen lassen sollte – die Szenerie schien viel zu unwirklich, der Fluss zu still und der Fährmann ihr gegenüber zu unnahbar, als dass es einen Sinn hatte, ihn weiter zu bedrängen. Und doch wusste sie, dass sie so nicht weiterkommen würde.

Entschlossen setzte sie sich auf. Sie musterte den Fährmann prüfend und hob aufs Neue an: »Aber vielleicht ist dir das, was ich da erzähle, ja bereits bekannt? Womöglich hast du schon Erfahrung mit dieser Art von Zaubermacht?«

Sie atmete ein, wie um sich vor einem Sprung in unbekannte Gewässer zu wappnen.

»Vielleicht beherrschst du sie gar selbst – Balthasar?«

Mit einem dumpfen Klang stieß das Ende der Stange gegen den Grund des Flusses und verharrte dort. Der Fährmann hielt in seiner Bewegung inne und zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise stockte die Fahrt.

Die fremde Frau spürte ihr Herz schneller schlagen, als sie die Gestalt des Fährmanns betrachtete. Verschwunden waren jeder Schein und alles Blendwerk; vor ihr saß ein kräftiger Mann mit rotbraunen Haaren, der kaum älter schien als sie selbst. Sein Gesicht war faltenfrei und nun konnte sie klar erkennen, dass sein linkes Auge fehlte und die Haut darüber eingesunken und vernarbt war.

Langsam drehte sich Balthasar um und wandte ihr sein gutes Auge zu. »Was willst du von mir wissen?«

Sein Blick war müde, und doch sah sie, dass ihre Worte etwas in ihm geweckt hatten, einen Funken, der kurz vor dem Erlöschen gewesen war. Die Erwähnung seines Namens hatte seine Miene erhellt, so wie der Blitz die Nacht erleuchtet, um die Landschaft bis in jede Ferne zu enthüllen.

»Was ich von dir will?« Die Fremde lächelte schmal. »Alles.«

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