Die kleine Nymphe – Leseprobe
1. Eine kleine Nymphe an einem kleinen Quell
Der Waldsee, an dem die kleine Nymphe lebte, war nicht groß. Hättest du vom Rand aus einen Stein über das Wasser springen lassen und hättest du dich dabei geschickt angestellt, so hätte er die andere Seite sicher erreicht. Das Ufer war umringt von hohen Bäumen und Haselnusssträuchern, deren Äste weithin über das Wasser ragten. Nur wenn die Nymphe den Blick zum Himmel wandte, konnte sie zwischen den Baumkronen tagsüber die Sonne sehen und in der Nacht die Sterne. Es war das einzige Stück Himmel, das sie kannte, denn sie hatte ihren Weiher noch nie verlassen.
Die kleine Nymphe lebte hier schon so lange, wie sie denken konnte. Sie hatte viele Sommer verstreichen sehen, in denen die Tiere zu ihrem See kamen, um sich zu erfrischen, und kalte Winter, in denen die Waldelfen auf dem glasklaren Eis ihre Kreise drehten. Die Nymphe saß dann mit untergeschlagenen Beinen am Rand des Weihers und sah den Waldwesen bei ihrem Spiel zu. Du hättest sie vielleicht für ein kleines Mädchen gehalten, mit großen, blaugrünen Augen und einer zierlichen Stupsnase. Sie hatte grüne Haare, die ihr wie Wasserpflanzen über die Schultern flossen, und trug ein Kleid aus Seerosenblättern.
Oft saß sie im Schatten der Bäume, spielte mit den Tierkindern oder schaute durch das Blätterdach hinauf zu den Sternen. Ihr Lieblingsplatz war ein breiter Stein neben dem Waldbach, der am Rand des Weihers abfloss. Dort hockte die Nymphe stundenlang und sah dem Wasser hinterher, das zwischen Steinen und Moos gurgelnd durch den Wald plätscherte. Nur einen Steinwurf weit konnte sie dem Bachlauf mit den Blicken folgen, dann verschwand er hinter einem umgestürzten Baumstamm im Unterholz.
Die Nymphe fragte sich oft, wohin das Wasser fließen mochte und was es auf seinem Weg wohl alles erlebte. Eigentlich wäre es für sie schon lange an der Zeit gewesen, den Weiher zu verlassen und dem Lauf ihres Flusses zu folgen, wohin er sie auch führen mochte. Aber Frühling folgte auf Frühling, und immer wieder schob sie die Reise vor sich her.
»Es wird bestimmt einmal ein breiter Fluss«, behaupteten die Fledermäuse, die des Abends um sie her durch die Dämmerung huschten. »Mit vielen leckeren Käfern, die man darauf jagen kann.«
»Es wird ein tiefer Fluss, mit vielen Höhlen und Wurzelwerk auf dem Grund«, blubberten die Fische.
»Und Sträuchern und hohen Farnen am Ufer«, riefen die Mäuse und Hasen, »um sich darin zu verstecken.«
Und die kleine Fledermaus mit dem eingerissenen Ohr piepste: »Es wird nämlich der allergrößte, schönste Fluss überhaupt, so viel steht fest!« Herausfordernd sah sie sich um, ob wohl jemand wagte, ihr zu widersprechen. Doch die Einzigen, die sich um sie kümmerten, waren die Elfen, die in bunten Lichtern um sie herum über das Wasser hüpften.
Wenn die Bäume über der kleinen Nymphe solche Reden mit anhörten, schüttelten sie die schweren Häupter, sodass der Wind zwischen den Blättern raschelte.
»Nicht alle Flüsse schaffen es, selbst groß und breit zu werden«, erklärte die hohe Ulme, die immer ein wenig hochnäsig aussah. »Die meisten fließen in andere, größere Flüsse ein.«
»Oder sie versickern«, fügten die Haselsträucher hinzu. »Sie geraten in einen Sumpf und kommen nie wieder daraus hervor.«
Versickern? Die kleine Nymphe schüttelte den Kopf, wenn sie so etwas hörte. Nein, niemals! Ihr Fluss konnte nicht einfach in irgendeinem Sumpf versickern und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. So etwas war gewiss nicht möglich.
»Was meinst du?«, fragte sie und ging hinüber zu ihrer Freundin, der alten Weide, die am anderen Ende des Weihers direkt neben der Quelle stand. »Was wird aus meinem Fluss einmal werden?«
Die Weide raschelte mit ihren trockenen Zweigen und neigte sich zu der Nymphe herab, wie immer, wenn sie diese Frage hörte. Sie war schon sehr alt, sodass ihre Äste knackten, wann immer sie sich bewegte. Auch ihre Stimme klang alt und knarzig, als sie nun sagte:
»Dein Fluss ist stark, kleine Nymphe, und sein Wasser ist klar. Wenn du dich schließlich aufmachst, ihm zu folgen, wirst du es selbst erleben. Sei gewiss, dein Fluss wird den Sternen folgen und am Ende findet er seinen Weg zum Meer.«
Die kleine Nymphe fühlte bei diesen Worten einen leisen Stich. Natürlich sollte sie ihrem Fluss folgen, so wie es die Aufgabe einer jeden Nymphe ist. Aber schließlich war dafür doch noch so viel Zeit … Und solange die Weide überzeugt war, dass ihr Fluss eines Tages das Meer erreichte, war ja eigentlich alles in bester Ordnung.
Sicher und geborgen kuschelte sie sich am Stamm der alten Weide ein und blickte zu den Sternen, die hoch oben am Himmel funkelten.
Es war ein Nachmittag Ende April, einer jener Frühlingstage, an denen der Regen in leichten Tropfen durch den Wald nieselt und alles mit feinem Sprühregen benetzt. Die meisten Tiere versteckten sich bei diesem Wetter in ihren Löchern und Höhlen, nur wenige Elfen flatterten unstet umher. Im verspielten Tanz jagten sie sich über die Wasserfläche und bespritzten einander mit Tautropfen.
Die kleine Nymphe saß am Rand des Weihers neben einem Haufen Kieselsteine, die sie im Flussbett gesammelt hatte. Sorgsam balancierte sie die glatten Steine aufeinander, um einen Turm daraus zu bauen. Währenddessen summte sie eine Melodie, die sie einmal von einer vorbeiziehenden Schwalbe gehört hatte. Sie liebte die nassen Apriltage; der ganze Wald roch dann frisch, nach Frühling und neuem Leben.
Ein leises Piepsen brachte die Nymphe dazu, den Kopf zu heben. Zwei vorwitzige Eichhörnchenkinder waren aus ihrer Höhle zwischen den Zweigen der alten Weide geklettert und spielten nun hoch über ihr Fangen. Es war ein riskantes Spiel: Die meisten Äste des Baums waren längst abgestorben und brachen bei der kleinsten Berührung. Nur ein einziger Zweig an einem der unteren Stämme schimmerte frisch und jung – der letzte gesunde Zweig, den die alte Weide besaß. Er war der ganze Stolz des Baums und die Tierkinder hüteten sich, diesen Ast für ihre Turnereien zu nutzen.
Immer näher sprangen die beiden nun zu der kleinen Nymphe, ohne sich um ihren Steinturm zu kümmern. Sie streckte schützend den Arm aus, doch umsonst: Schon streifte eines der Eichhörnchen den Turm mit seinem Schwanz und die Hälfte der Kiesel fiel klackernd zu Boden. Wütend fuhr die Nymphe auf, um dem Tierchen die Meinung zu sagen – doch da war es schon wieder zwischen den Ästen des Baums verschwunden.
Sie schüttelte den Kopf und machte sich daran, ihren Turm wieder aufzurichten. Am Ende konnte sie den kleinen Biestern ja doch nicht böse sein. Jetzt wagte das kleinere der Tierkinder einen besonders waghalsigen Sprung – und landete mit einem lauten Platsch mitten im Wasser des Weihers. Die Nymphe lachte schallend auf, während das pitschnasse Eichhörnchen zum Ufer schwamm und zurück auf den Baum kletterte.
Eine vertraute Stimme erklang hinter ihr: »Es ist ein regnerischer Frühling. Die Wasser stehen hoch.«
Überrascht drehte die Nymphe sich um. Die Worte waren von drüben am Ufer gekommen, dicht neben der alten Weide. Dort saß auf einem Baumstamm neben dem Weiher ein langer Kerl und ließ seine Beine über das Gewässer baumeln, ohne sich um den Regen zu kümmern. Es war der Nöck, der alte Wassermann, der auf seinen Wanderungen hin und wieder beim Nymphenquell vorbeikam. Er hatte lange, dunkle Haare, die ihm in dicken Zöpfen um die Schultern fielen, und unter der Nase einen breiten Schnauzbart. Seine Kleidung hing immer etwas zu weit um seine schlaksige Gestalt und auf dem Kopf trug er einen alten Zylinder.
Die alte Weide hatte ihn schon oft einen Landstreicher geschimpft, doch die Nymphe mochte den sonderbaren Kerl und unterhielt sich gerne mit ihm. Immer wenn es regnete, stattete er dem Weiher der kleinen Nymphe einen Besuch ab. Er setzte sich zu ihr, stopfte sich seine tönerne Pfeife und erzählte ihr, wie es draußen in der weiten Welt stand.
»Wie schön, dich zu sehen«, begrüßte die Nymphe den Nöck und nickte ihm höflich zu.
Auch die beiden Eichhörnchen hatten ihn nun bemerkt; neugierig kletterten sie an seinem langen Mantel empor und versteckten sich zwischen den dichten Haaren. Der Anblick war so drollig, dass die kleine Nymphe sich zusammenreißen musste, ein Lachen zu unterdrücken. Der Nöck rümpfte die Nase, doch das machte den Tierkindern nichts: Schon war das größere von ihnen auf seinen Zylinder geklettert und sein Geschwisterchen bemühte sich nach Kräften, ihm zu folgen.
»Du solltest hören, wie es allerorten schäumt und gurgelt«, erzählte der Nöck gelassen, ohne sich von den Eichhörnchen stören zu lassen. »Die Flüsse laufen über von all dem Wasser, das aus den Bergen strömt. Alles, was Lust zum Wandern hat, ist draußen auf den Beinen.« Er nahm einen tiefen Zug von seiner Pfeife und ließ den Rauch hinauf zu seinem Hut schweben. Hustend plumpste das kleinere der Eichhörnchen herunter und kullerte über den Ärmel des Nöck zu Boden.
»Mir gefällt es hier in meinem Weiher«, erwiderte die Nymphe näselnd. »Ich habe keinen Grund, von hier fortzugehen.« Sie hielt sich beim Reden mit spitzen Fingern die Nase zu, als ob sie den Pfeifenrauch nicht ertrug. In Wahrheit mochte sie den Geruch von altem Tabakdunst, der den Nöck umfing, aber dennoch bemühte sie sich, ihn daran zu erinnern, dass das Rauchen keine schöne Angewohnheit war.
Doch der Nöck war gut darin, ihre Andeutung zu ignorieren. Gelassen nahm er noch einen tiefen Zug, sodass der Rauch wie eine graue Wolke zwischen den Bäumen aufstieg. »Ganz wie du meinst«, antwortete er ungerührt. Dann nickte er hinüber zur anderen Seite des Sees, wo der Waldbach sprudelnd im Unterholz verschwand. »Aber fragst du dich nicht manchmal, was dein Fluss da draußen so alles treibt?«
Die Nymphe folgte seinem Blick hinüber zu dem kleinen Bächlein. Es sah wirklich verlockend aus, wie das Wasser gurgelnd in den Wald hineinlief. Sie seufzte leise auf.
»Aber was, wenn er es nicht schafft?« Kleinlaut sah die Nymphe zu dem Nöck auf, überrascht von den eigenen Worten. »Was, wenn mein Fluss das Meer nicht erreicht?«
»Und wenn schon.« Der Nöck schüttelte seinen Kopf, sodass sich das zweite Eichhörnchen nur mühsam an der Krempe seines Huts festhalten konnte. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Alle Flüsse suchen das Meer, oder sie behaupten es jedenfalls. Aber die Frage ist nicht, ob sie es am Ende erreichen. Die Reise dorthin ist es, die jeden Fluss einzigartig macht.«
Die alte Weide hinter ihnen raschelte bei diesen Worten unruhig, so als würde die Rede dem Baum nicht gefallen. Die Fledermäuse in ihren Astlöchern, die nun am Abend langsam erwachten, schauten träge aus ihren Höhlen. Doch der Nöck scherte sich nicht darum.
»Wichtig ist, was ein Fluss unterwegs erlebt und auf wen er trifft«, bekräftigte er seine Worte. »Wer an seinem Ufer geboren wird und wer dort stirbt.« Er nahm noch einen Zug aus seiner Pfeife, während er dem Waldbach mit den Augen folgte. »Das sind die spannenden Fragen, meinst du nicht auch?«
»Papperlapapp!«, klang es da von der Weide herüber. »Schluss mit dem dummen Geschwätz. Unsere Nymphe ist eine gute Nymphe und ihr Gewässer ist stark. Natürlich wird der Fluss das Meer erreichen.«
Der Nöck nickte zu dem alten Baum hinüber, als wollte er ihm seinen Respekt ausdrücken. »Wie du meinst«, sagte er ungerührt. Die kleine Nymphe sah, wie er ihr dabei zuzwinkerte. Gelassen kaute er auf seiner Pfeife, dann hob er den Kopf zum Himmel. »Der Regen hört bald auf«, stellte er fest. »Ich mache mich wieder auf den Weg.«
Damit nahm er seinen Hut ab und hielt ihn zu Boden geneigt, damit auch das zweite Eichhörnchen hinabklettern konnte. Mit einer angedeuteten Verbeugung zu der Nymphe setzte er ihn wieder auf. Er griff sich aus dem Weiher einen kleinen Stein und legte ihn sorgsam auf den Steinturm, den sie errichtet hatte. Dann stopfte er seine Pfeife und wanderte summend davon, während ihm die Regentropfen den Mantel hinabliefen.
Die kleine Nymphe schlang ihre Arme um die Knie. Gedankenverloren blickte sie dem Nöck hinterher, wie er sich durch Schlamm und Sträucher seinen Weg bahnte, der nächsten Reise entgegen.
»Ich mag ihn«, sagte sie leise.
Die Weide schüttelte ihre trockenen Zweige, sodass die Regentropfen in einem Schauer herabrieselten. Mit einem Quieken brachten sich die beiden pitschnassen Eichhörnchen in Sicherheit.
»Papperlapapp«, grummelte die Weide. »Er ist ein Störenfried, mit seinen Geschichten und seinen dummen Fragen.«
Doch die kleine Nymphe hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Nachdenklich fuhr sie mit dem Finger über das Wasser, auf dem die letzten Regentropfen ihre Kreise bildeten.
»Das Meer …« Die Nymphe legte den Kopf zur Seite, dann wandte sie sich zur Weide. »Was weißt du davon? Hast du es je gesehen?«
Die Weide lachte – ein tiefer, knarziger Ton, der ihren ganzen Stamm zum Ächzen brachte. »Gesehen? Nein, kleine Nymphe. So lange ich lebe, habe ich deinen Weiher noch nie verlassen. Ich habe nur gehört, was mir die Schwalben und die Wildgänse auf ihrem Zug erzählen. Und ich kenne die Geschichten der uralten Bäume – jene, die hier waren, lange vor meiner Zeit.«
Mit einem Knarren beugte sie sich zum Wasser, wo die Nymphe saß. Vorsichtig schlichen sich die Eichhörnchen wieder aus ihrer Höhle und auch die eine oder andere Fledermaus öffnete verschlafen ein Auge. Sogar die Elfen hielten in ihrem Tanz inne und kamen näher an den alten Baum heran. Keine von ihnen wollte verpassen, was die Weide zu erzählen hatte.
»Das Meer …«, hob die Weide knarzend an und atmete tief ein, wie um sich zu besinnen. »Sie sagen, das Meer sei das Größte, was es auf der Welt gibt. Es ist ein tiefes Gewässer, das sich von der einen Seite der Welt zur anderen zieht, überspannt von einem weiten Himmelszelt. Von allen Seiten fließen Flüsse hinein und füllen es mit neuem Leben.«
Und so erzählte die alte Weide den Waldtieren vom Meer. Sie erzählte von dem endlosen Blau, das sich in alle Richtungen erstreckt – mehr Wasser, als irgendjemand von ihnen je gesehen hatte. Von wilden Sturmfluten und Orkanen, die bis ans Land peitschen und den Strand mit hohen Wellen bedecken. Und von den hellen Lichtern hoch im Norden, die bunt am Himmel schimmern. Sie erzählte, bis die letzten Regentropfen auf den Ästen getrocknet waren, bis die Dämmerung sich senkte und die Sterne über ihnen durch die Bäume funkelten.
Mit glänzenden Augen saß die kleine Nymphe da, die Arme um ihre Knie geschlungen, und lauschte den Worten des alten Baums.