Ein Geschenk für Eva

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»Mama? Was soll ich Eva zu Weihnachten schenken?«
Ein lautes Rascheln war aus dem Schrank mit dem Weihnachtsschmuck zu hören. »Was hast du gesagt?«
Lilli ließ ihre Buntstifte fallen und lief durch das Wohnzimmer zum Regal hinüber. Ohne sich um das Fauchen der Katze zu kümmern, kroch sie zu ihrer Mutter, die vor dem niedrigen Schrank hockfunte, und zupfte sie ungeduldig an der Schulter. »Evas Weihnachtsgeschenk. Was meinst du, was soll ich ihr geben?«
Die Mutter wandte sich um und sah ihre Jüngste unsicher an. »Du willst …« Zögernd richtete sie sich auf und strich dem Mädchen eine braune Locke aus der Stirn.
»Oh, Spätzchen, das musst du doch nicht«, klang da eine Stimme von der Tür. Vater war unbemerkt ins Wohnzimmer getreten und sah mit weichem Blick zu den beiden her. Leise kam er herüber, gab seiner Frau einen Kuss und nahm Lilli auf den Arm. »Deine Schwester erwartet sicher nicht, dass du ihr extra ein Geschenk besorgst.«
Die Katze maunzte noch einmal fordernd zu Lilli herauf, dann stolzierte sie zwischen den Beinen der Erwachsenen aus dem Zimmer. Mutter und Vater wechselten über Lillis Schulter hinweg einen kurzen Blick, doch das Mädchen bemerkte die Erwachsenen gar nicht. Ungeduldig griff sie die Ärmel von Vaters Hemd und schüttelte den Kopf, dass die Locken flogen.
»Ich muss Eva doch etwas schenken! Sie ist sicher traurig, wenn sie nichts bekommt!« Der Blick, mit dem sie ihren Vater fixierte, wurde trotzig. »Ich will nicht, dass Eva traurig ist.«
Mit einem dumpfen Klang schloss Mutter die Schranktür. Vater bedachte seine Jüngste mit einem Lächeln. »Nein, das wollen wir auch nicht.« Sanft strich er ihr über die Wange, an der noch Plätzchenreste hingen. »Also gut, Spatz. Wir werden uns etwas überlegen. Hast du denn schon eine Idee?«
Lillis Blick fiel auf das halbfertige Bild auf dem Tisch und ein Leuchten überzog ihr Gesicht. »Ich werde ihr etwas basteln! Darüber freut sie sich bestimmt.«
»Und was willst du ihr basteln?«, fragte Vater nach.
Sie richtete sich in seinem Arm auf und warf einen Blick zur Tür, als ob ihre Schwester jeden Moment hereinkommen könnte, dann flüsterte sie ihm ins Ohr: »Das ist ein Geheimnis!«

Die nächsten Tage über verwandelte sich Lillis Zimmer in einen Hort reger Betriebsamkeit. Mit Vaters Hilfe hatte sie ein Schild geschrieben und an die Tür gehängt, auf dem »Zutritt strengstens verboten!« stand, und in kleinerer Schrift darunter: »Gilt für alle außer Papa.« Der blaue Basteltisch war freigeräumt worden, um Platz zu schaffen für eine große Kartonfläche. Daneben standen Schere und Kleber und ein großer Stapel Fotos, die Papa auf Lillis genaue Anweisungen hin am Computer ausgewählt und ausgedruckt hatte.
Nun waren die beiden gemeinsam damit beschäftigt, die Fotos auszuschneiden – Lilli zeichnete die genauen Linien auf und Vater schnitt sie nach –, und die Ergebnisse dann auf den Karton zu kleben. Es waren verschiedene Bilder aus dem letzten Jahr, Fotos, auf denen die ganze Familie im Urlaub zu sehen war, und die beiden Mädchen, wie sie zusammen spielten. Für manche der Bilder fand Lilli auf der großen Pappe sofort den richtigen Platz, andere betrachtete sie erst lange und ausgiebig, ehe sie ihnen einen besonderen Ort zuwies.
Niemand sonst durfte das Zimmer betreten, sogar die Katze wurde von Lilli rigoros ausgesperrt. Nur ab und an öffnete sich die Tür, wenn Mutter den beiden etwas zu Essen bringen sollte. »Nicht schauen, keiner darf vorher gucken«, rief Lilli dann heftig und Vater ging zur Tür, um seiner Frau die Brötchen oder den Teller mit Gebäck abzunehmen. Dann wechselte er einen zärtlichen Blick mit ihr, er gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging zurück, um seiner Tochter bei ihrem Vorhaben zu helfen.
Zwei Tage vor Weihnachten war das Geschenk fertig. Lilli hatte sich von Mutter rotes Papier erbeten, um das große Bild damit zu umwickeln, und mithilfe von Vaters Tesa-Rolle gelang es ihr ganz allein, das rotglänzende Papier um den Pappkarton zu schlingen. »Damit niemand es vorher sehen kann«, erklärte sie ihrem Papa mit ernster Miene, ehe sie das Paket mühsam vom Tisch wuchtete. Vater öffnete ihr die Tür und Lilli trug das Geschenk hinüber ins Wohnzimmer zu dem buntleuchtenden Tannenbaum, den Mutter gerade mit Strohsternen schmückte.
Stolz stellte sie ihr glänzendes Paket unter dem Weihnachtsbaum ab, dann drehte sie sich zu ihrer Mutter hinüber, die gerade die große Sternschnuppe aus ihrer Verpackung befreite. »Hast du es gesehen?«
Mutter legte den Stern beiseite und sah ihre Tochter an. »Ja, das habe ich«, sagte sie leise. »Du hast sicher ein wunderschönes Geschenk gebastelt.«
»Oh ja, das habe ich!«, rief Lilli. »Das beste Geschenk überhaupt.« Sie griff eines der Plätzchen vom Wohnzimmertisch und schob es der Katze zu, die schon nach den Leckereien gelangt hatte.
»Lilli, keine Süßigkeiten vor dem Abendessen«, rief ihre Mutter, doch das Mädchen achtete gar nicht darauf. Noch einmal betrachtete sie das rote Paket, dann wandte sie sich um.
»Und wann werden wir es ihr bringen?«
Um Mamas Lippen lief ein leichtes Zucken. Hilflos öffnete sie den Mund.
Von der Seite war Vaters Stimme zu hören: »Spätzchen, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich bin sicher, deine Schwester sieht es auch, wenn …«
Mit einem sanften Kopfschütteln unterbrach die Mutter ihren Mann. »Mein kleiner Schatz«, flüsterte sie und strich Lilli über die Wange, »wollen wir morgen bei Eva vorbeigehen? Auf dem Weg zum Weihnachtsgottesdienst?«
»Oh ja«, sagte Lilli leise. Unwillkürlich hatte auch sie ihre Stimme gesenkt und sah ihre Mutter aus großen Augen an. »Dann kann ich es ihr direkt vorbeibringen.«

Die Sterne funkelten am schwarzen Himmel. In der vergangenen Nacht hatte es Frost gegeben und die Bäume und Sträucher waren mit einer silbrigen Eisschicht überzogen. Die Luft auf der Straße roch nach Winter und Weihnachten.
In milchigweißen Wolken stieg Lillis Atem in die Luft empor. In einen dicken roten Wintermantel gehüllt – ein Erbstück ihrer Schwester – lief das kleine Mädchen über die beleuchteten Gehwege, immer zwei Schritte vor ihren Eltern, die ihr eng aneinandergeschmiegt folgten. Zwischen ihnen stolzierte die Katze, die sich ungeachtet der Kälte zu ihnen gesellt hatte. Vater hielt das rote Paket unter dem Arm und sah seiner Tochter hinterher. Mutter hatte das Gesicht in einen breiten Schal gewickelt und bemühte sich, ihren Blick auf den Weg vor sich zu richten. Ihre Schultern zitterten unter dem Mantel und in ihren Augen glänzte es feucht.
Kurz vor der Kirche bog die kleine Familie ab und betrat den Friedhof, der zu der späten Stunde einsam im Licht der Sterne lag. Ihre Füße hinterließen dunkle Abdrücke auf dem frostbelegten Gehweg, nur die Katze tapste über den Raureif, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die moosbewachsenen Wege zwischen den Bäumen waren dunkel und für einen Moment schien Lilli den Mut zu verlieren. Ängstlich blickte sie sich nach ihrem Vater um, doch der lächelte ihr aufmunternd zu und hielt das Paket in die Höhe. Sofort festigte sich der Blick des Mädchens und zielsicher lief sie voraus, hinein in die Dunkelheit des Friedhofsgartens.
Das Grab lag am südlichen Ende, nur eine Reihe von der Mauer entfernt. Das säuberlich gepflegte Viereck war kleiner als die umliegenden Gräber, zu klein für einen Erwachsenen. Hinter der Grabstätte erhob sich ein steinernes Kreuz und darauf stand schlicht der Name Eva.
Stumm stand Lilli vor dem dunklen Rechteck. Im August hatten hier Sonnenblumen geblüht und im Herbst hatte Vater weiße Chrysanthemen gepflanzt, doch nun, im eisigen Dezember, musste die Stelle ohne jeden Schmuck auskommen. Zögerlich tapste die Katze über den steifgefrorenen Boden. Ein leiser Schluchzer war von Mutter zu hören. Lilli spürte, wie der erdig-kahle Fleck ihr Herz zum Beben brachte.
»Papa«, flüsterte das Mädchen, »gibst du mir das Geschenk?«
Mit einem heiseren Räuspern beugte sich ihr Vater zu ihr herunter und reichte ihr das übergroße, rotglänzende Paket.
Lilli nahm das Geschenk mit ernster Miene an und ging dann vor dem Kreuz in die Hocke. Sie holte tief Luft. »Hier Eva. Das ist für dich.«
Mit den dicken Fäustlingen gelang es dem Mädchen nicht, die Geschenkverpackung zu öffnen, und so musste Vater ihr helfen, die Handschuhe auszuziehen. Achtlos ließ Lilli sie fallen, dann wandte sie sich wieder ihrer Schwester zu.
»Ich packe es für dich aus, ja? Weil du ja gerade nicht kannst.«
Mit einer Sorgfalt, wie sie sie ihren eigenen Geschenken noch nie gewidmet hatte, öffnete Lilli Lasche um Lasche der rotglänzenden Folie, während die Katze um ihre Beine strich. Das glänzende Papier drapierte sie sorgsam auf dem kahlen Boden, dann nahm sie die buntbeklebte Pappe in die Hand. Zärtlich strichen ihre kleinen Finger über die Fotos, die in der Dunkelheit gerade noch zu erkennen waren.
»Siehst du, Eva, das ist aus dem Skiurlaub – da, wo wir um die Wette gefahren sind.« Ihr Finger fuhr weiter, zu einem anderen Bild. »Und hier, schau, da hat Mama uns eine Geschichte vorgelesen. Und da, da waren wir am Meer … da haben wir zusammen …«
Ihre Stimme erstickte. Da spürte das Mädchen, wie sich ihr eine Hand auf die Schulter legte. Als sie sich umwandte, sah sie ihre Mutter, die sie mit einem leisen Nicken ansah. Ihre Augen waren immer noch tränenbenetzt, doch um Mutters Mund spielte ein Lächeln.
Für einige Herzschläge war auf dem dunklen Friedhof alles still. Nur Lillis schnaufender Kinderatem war zu hören und das leise Maunzen der Katze. Unbewegt stand das Mädchen da, neben ihr die Gestalten ihrer Eltern. Dann, mit einem lauten, dunklen Dröhnen, erklang der erste Glockenton aus der Kirche neben dem Friedhof. Ein weiterer Ton kam dazu und ein dritter, bis aus dem einsamen Donnern ein festlicher Chor geworden war. Die bronzenen Klänge schallten durch die sternenbesetzte Nacht, um die Gläubigen zur Christmette zu rufen.
Lilli atmete tief ein, dann beugte sie sich zu dem Grab ihrer Schwester und lehnte die beklebte Pappe gegen das Kreuz. »Hier Eva«, flüsterte sie so leise, dass ihre Stimme kaum zu hören war. »Hab ein frohes Weihnachtsfest.«
Wie als Antwort maunzte die Katze zwischen ihren Beinen und tapste mit der Pfote nach Lillis Hand. Sie schleckte über die kleinen Kinderfinger, wie um sich zu bedanken. Dann strich das Tier um den Grabstein und legte sich neben dem bunten Pappbild auf die Erde.
Zusammen gingen die drei zurück, über die Friedhofswege hinüber zu dem erleuchteten Tor der Kirche. Laut rollten die Glockentöne ihnen entgegen, als Vorboten der Weihnachtsandacht. Noch einmal drehte Lilli sich um, um zu Evas Grab zu schauen. Sie sah das Geschenk, das dort an das Kreuz gelehnt stand, und trotz der Kälte wurde ihr warm.
»Wohin ist die Katze verschwunden?«, fragte sie ihren Vater, während ihr Atem in kleinen Wolken aufstieg. »Eben war sie doch noch da.«
Vater zog die Augenbrauen zusammen. »Welche Katze meinst du denn, Spätzchen? Ich habe nichts gesehen.«
Er tauschte einen erstaunten Blick mit seiner Frau und schaute selbst noch einmal suchend zurück. Doch da hatte sich Lilli schon wieder umgewandt. Eilig machte sie sich auf den Weg und griff nach den Händen ihrer Eltern, um sie zum Ausgang hinüberzuziehen.
Als Mutter die kleine Kinderhand in ihrer spürte, beugte sie sich zu dem Mädchen und gab Lilli einen Kuss. »Das war eine gute Idee, mein Schatz«, sagte sie und strich ihrer Tochter über die Wange. »Eva wird sich sicher darüber freuen.«