Tollkraut – Leseprobe
Hoch über Prag erhebt sich ein schroffer Felsen über der Moldau, auf dem die Reste einer alten Festungsanlage thronen. Es wird erzählt, dass das mythenumwobene Geschlecht der Přemysliden auf der Hochfeste seinen Sitz hatte: Die Fürsten und Könige von Prag haben dort oben Hof gehalten, samt ihrer Ahnherrin, der Seherin Libuše.
Unten vom Fluss aus ist von diesem Felsgestein nur die äußerste Klippe zu sehen, die die Prager Libušes Bad nennen, nach den uralten Ruinen, die darauf zu erkennen sind. Als drohendes Riff ragt dieser Felsen über den Fluten der Moldau empor, so wie er es schon seit Anbeginn der Zeit getan hat. Das Land um die alte Burg herum mag sich verändert haben; immer mehr der umliegenden Stadt wurde von den Menschen gezähmt, schließlich haben sie sogar einen Tunnel aus dem Berg herausgeschlagen. Und doch ist es ihnen nicht gelungen, der Felskante mit den uralten Ruinen etwas von ihrem majestätischen Wesen zu nehmen. Jede Passantin hält inne, um an der Klippe emporzuschauen, jeder Spaziergänger lässt seinen Hund anhalten und verbringt eine kurze Pause im Schatten des Gesteins – so als würden sie den Ruf einer verlorenen Zeit vernehmen, die sie ermahnt, innezuhalten und sich auf die alten Legenden zu besinnen, ehe sie ihren Alltag wieder aufnehmen.
Nicht selten spürt der unschuldige Wanderer bei diesem Anblick eine nie gekannte Sehnsucht, die ihm das Herz abschnürt. Dieses Sehnen lässt ihn verrückte Dinge tun – es weckt den Drang nach großen Heldentaten und selbstlosen Gesten. Er will sein Hab und Gut in den Fluss werfen und als Vagabund durch die Lande ziehen. Oder er fühlt die Versuchung, den Felsen zu besteigen und die alten Ruinen oben auf dem Gestein zu erreichen, die seit Jahrhunderten kein Sterblicher mehr betreten hat.
So ergeht es zumindest dem Jugendlichen, der an diesem Maienmorgen auf dem Vorsprung vor dem Felsen steht und prüfend hinaufschaut. Es ist ein magerer Kerl von vielleicht neunzehn Jahren, der seine etwas zu weite Jacke gerade auf den Boden fallen lässt, neben die Straßenschuhe, die er bereits gegen geflickte Kletterschuhe eingetauscht hat. Mit forschem Blick betrachtet Janek den Fels, der noch feucht ist vom Morgentau und den Resten eines vergangenen Regenschauers. Es ist nicht das erste Mal, dass er versucht, Libušes Bad zu besteigen. Immer wieder zieht es ihn hier heraus, um sein Glück an der schroffen Felskante zu versuchen – auch wenn es ihm bisher noch keinmal gelungen ist, die verfallenen Ruinen oben auf dem Felsen zu erreichen.
Janek legt die Hand auf das Gestein, er spürt die Feuchtigkeit des Mooses und den Tau, der seine Finger benetzt. Die Morgensonne hat es noch nicht geschafft, den klammen Stein zu erwärmen. Drüben am Westufer der Moldau spielen ihre Strahlen bereits auf den gemauerten Uferpromenaden, aber hier wirft der Berg lange Schatten über die Straße. Mit einem Seufzen wischt er sich die Hand an der Jeans ab. Erst vor einer halben Stunde hat es geregnet; der Fels ist feucht und viel zu rutschig. Es wäre eine Torheit, jetzt hinaufzuklettern. Und doch … Was, wenn gerade heute der Tag ist, an dem er das Felsplateau erreichen wird? Ein frischer Maienmorgen, noch ehe die Sonne den Berg überstiegen hat und ihm von hinten auf den Rücken brennt …
Noch einmal schaut er über die Brüstung hinab auf die Moldau, die tief unter der Straße mit gischtbesetzten Wellen an den Felsen entlangpeitscht. Er atmet tief ein, dann greift er nach dem ersten Steinvorsprung und zieht sich mit einer entschlossenen Bewegung hinauf.
Die ersten Meter sind nicht schwer – Janek ist sie schon so oft geklettert, dass ihm jeder Zug in Fleisch und Blut übergegangen ist. Der alte Wachturm links von ihm, von dem es heißt, dass im Winter die Fledermäuse dort nisten, schützt ihn zuverlässig vor den neugierigen Blicken der Autofahrer. Die Bergwand hier unten ist glatt und rutschig, aber Janek stemmt sich mit dem Rücken gegen den Turm, sodass er jeden noch so schmalen Riss im Gestein als Tritt nutzen kann. Wenn er jetzt abrutschen würde, hätte er kein großes Problem: Gemächlich könnte er am Fels entlanggleiten, zurück auf den Gehweg, der zwischen dem Straßentunnel und dem Ufer der Moldau entlangführt.
Dann, fast zu schnell, hat Janek die Zinnen des dicken Turms erreicht. Über ihm liegt der freie Aufstieg, weiter den Felsen hinauf, wo er gerade so das uralte Mauerwerk der Ruine erkennen kann – das Ziel seiner Klettertour.
Noch ein paar Züge lang kann er sich auf die Erinnerung seiner Muskeln verlassen. Ein schmaler Tritt zu seiner Rechten, dann ein langer Zug, ein paar Schritte quer am Fels entlang … Er ist nun hinausgestiegen aus dem Windschatten von Turm und Straße. Unter ihm ist nichts mehr als das raue Gestein, das sich über der Moldau erhebt. Dunkel und drohend schäumt der breite Fluss im Schatten des Berges, scharf ragen die Felsspitzen aus dem Wasser. Janek schluckt, dann wendet er den Blick ab, hoch zu den fernen Mauerresten. Hier oben muss er sich bei jedem Fingergriff konzentrieren – noch hat er den besten Weg nicht gefunden, um hinauf zu seinem Ziel zu gelangen.
Mit einem Seufzen richtet Janek sich auf und streckt den Rücken durch, den Körperschwerpunkt nah an der Bergwand gehalten. Nirgendwo sonst ist die Moldau so tief wie hier; neun Meter reichen die Fluten angeblich hinab. Angestrengt blinzelt er hinauf zu den Mauerresten, die über ihm direkt aus dem Fels zu erwachsen scheinen. Libušes Bad … Es ist ein uralter Wachturm, so viel weiß er über die Ruine. Es heißt, dass die sagenumwobene Fürstin Libuše dort einst ihre Liebhaber empfangen hat. Und dass sie diejenigen, die ihr nicht mehr gefallen haben, hinunter in den Fluss werfen ließ. Heute gibt es keine Möglichkeit, zu der Ruine zu gelangen, keinen Weg als diesen: hoch über den Wellen, am nackten Fels entlang.
Janek schließt die Augen, während er nach dem nächsten Griff im Gestein sucht. Für einen Moment stellt er sich vor, es wäre nicht der Felsen über der Moldau, den er hier beklettert. Er spürt die kühle Morgenluft auf seiner Haut, den Wind, der an seinen Kleidern zieht, und malt sich aus, er wäre irgendwo weit im Norden, draußen in Lappland, um einen der Gipfel im Kepnekaise-Massiv zu besteigen. Den Tuolpagorni vielleicht … Hoch oben am Fels, fern aller Menschen, nur er und der Berg.
Da steigt ihm ein süßlicher Geruch in die Nase und weht seine Träumerei dahin. Es ist der Fliederduft von Prag, der jetzt im Mai die ganze Stadt erfüllt. Janek atmet tief ein. Nein, das hier ist kein nordisches Gebirge; dies ist die altvertraute Felswand über der Moldau. Nirgends sonst ist die Luft im Frühjahr so blütenschwer.
Langsam richtet Janek den Blick erst nach oben, dann unter sich auf den schäumenden Fluss. So weit hinauf hat er es noch nie geschafft – nur wenige Meter trennen ihn von dem alten Mauerwerk. Aber der schwerste Teil kommt erst noch: Die letzten Meter sind glatt und schimmern von Morgentau. Vielleicht ist es genug für heute … Vielleicht sollte er sein Glück nicht überstrapazieren. Wenn er sich jetzt vorsichtig an den Abstieg macht, hat er in einer Viertelstunde wieder festen Boden unter den Füßen.
Noch einmal hebt er den Blick, um hinauf zu dem Gemäuer zu schauen – und schreckt zusammen, als er hinter den alten Zinnen eine Frauengestalt erkennt.
Es kostet Janek alle Selbstbeherrschung, vor Überraschung nicht den Halt zu verlieren. Fest klammert er sich an den Fels, die Muskeln zum Bersten gespannt. Der Duft umschließt ihn nun von allen Seiten; wie eine unsichtbare Wolke hängt er an ihm und lässt ihn für einen Moment schwindeln. Seine Finger schmerzen, nur mit äußerster Kraft stemmen sich seine Zehen in die Spalten im Gestein. Vorsichtig, ohne sich von der Wand zu lösen, hebt Janek den Kopf und blickt wieder hinauf zu der verfallenen Mauer.
Fliederfarbene Augen sehen ihn an, aus einem Gesicht, das zugleich uralt und kindlich wirkt. Die hellbraunen Haare sind locker hochgesteckt, der herzförmige Mund lächelt ihm entgegen. Süß und schwer scheint ihn der Fliederduft hinaufzuziehen, direkt in ihre Arme.
Erstarrt schaut Janek hinauf, die Finger immer noch in das Gestein gekrallt. Sein Mund ist trocken, sein Blick hängt gebannt an der unwirklichen Gestalt. Es ist, als wäre der Fels selbst zum Leben erwacht, als hätte sich eine uralte Legende seiner erbarmt.
Die Erscheinung über ihm öffnet ihre Lippen, so als wollte sie etwas sagen – doch kein Laut ist zu hören. Dafür hebt sie nun die Hand, um ihn mit ihrem Zeigefinger zu locken. Es ist nur eine unscheinbare Geste, aber die Bedeutung ist klar: Janek soll zu ihr kommen, Fels und Witterung zum Trotz. Ein ferner Lichtschein funkelt ihm ins Auge, die Spiegelung der ersten Sonnenstrahlen, die sich auf den Wellen unter ihm brechen. Janek spürt, wie ihn frische Kraft erfüllt, eine neuerwachte Entschlossenheit: Dieses Mal wird er sich nicht von dem Gestein unterkriegen lassen. Er wird den Berg bezwingen und die alten Ruinen erreichen oder bei dem Versuch untergehen.
Mit neuem Mut löst Janek die verkrampften Hände und tastet nach dem nächsten Halt. Suchend fahren seine Fingerspitzen über die Steilwand, um irgendeinen Riss, eine Unebenheit zu finden, die er auf seinem Weg ausnutzen könnte. Sein Atem geht schwer, ob nun vor Anstrengung oder vor neuerwachter Aufregung. Schon beginnen seine Knie zu zittern – die gegen den Berg gestemmten Fußspitzen können das Gewicht, das auf ihnen lastet, nicht mehr tragen.
Janek beißt die Zähne aufeinander, den Blick starr auf die Felswand gerichtet. Es gibt einen Weg hinauf – es muss ihn einfach geben. Da sieht er es: Rechts über ihm ist eine flache Kerbe, gerade breit genug, dass er seine zitternden Finger um das Gestein schlingen kann. Mit all seiner Kraft stemmt er sich hoch, um sein ganzes Gewicht an diesen Vorsprung zu hängen, in einem letzten, tollkühnen Wagnis.
Da fällt ihm der ferne Lichtstrahl erneut ins Auge; hastig wendet Janek den Kopf ab, um dem Gleißen zu entgehen. In diesem Moment spürt er, wie der Stein unter seinen Fingerspitzen nachgibt. Mit einem leisen Bröckeln löst sich der Fels, und mit ihm Janeks Finger. Wie in Zeitlupe stürzen erst seine Hand, dann sein gesamter Körper von der Steilwand weg – nutzlos treten Janeks Beine nach dem verlorenen Halt, während er schon rückwärts dem Abgrund entgegenrauscht. Ein heftiger Stoß trifft ihn an der Schulter; für ein paar Meter schlittert er mehr an dem Gestein entlang, als dass er fällt. Dann wieder der freie Fall, die Luft saust ihm in den Ohren. Ein letztes Mal öffnet Janek die Augen, schaut hinauf zu dem Felsen, der riesenhaft über ihm aufragt – und hoch oben, weit entfernt die Frauengestalt, die immer noch auf ihn herabsieht, auf ihren stummen Lippen ein undeutbares Lächeln.
Dann ein letzter harter Schlag, der alle Luft aus seinen Lungen treibt. Ohne weiter zu kämpfen, ergibt Janek sich der Kälte und seine Welt erlischt.