Weißer Stechapfel – Leseprobe

Weißer Stechapfel – Werbebanner

Am Ende hat doch jeder von euch irgendwelchen Dreck am Stecken.

Bei jedem Menschen gibt es diese dunklen Geheimnisse, die er oder sie am liebsten weit hinten in ihrem Bewusstsein verbergen würde, um nie wieder daran zu denken. Natürlich funktioniert das so nicht. Ganz gleich, wie tief die schamhaften Details auch vergraben sind, sie haben die unangenehme Eigenschaft, irgendwann wieder hervorzubrechen. Spätestens wenn das Ende naht, schleichen sie sich an, um die Schuldigen zu überfallen und ihnen den Schlaf zu rauben. Und wenn sie das nicht von selbst tun – nun, dann helfe ich eben ein wenig nach.

Ganz ehrlich, mein Job macht mir einen Heidenspaß. Ich liebe es, die selbstgerechten Arschlöcher dabei zu beobachten, wie ihnen klar wird, dass die Stunde der Abrechnung gekommen ist. Ich liebe es, die Angst in ihrem Blick zu sehen, das mühevolle Zurückrechnen – das habe ich getan, und das, und stimmt ja, das auch noch … Dieses Klischee, dass einem in der Stunde des Todes das vergangene Leben vor dem inneren Auge abläuft? Oh ja, dafür sorge ich schon. Man könnte sogar sagen, dieser Teil ist meine Spezialität: dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen und den wimmernden Sünder daran zu erinnern, was er damals in Wut zu seinem Vater gesagt hat und wie er seine Frau betrogen hat, und dann noch das Geld aus der Kaffeekasse, das nie den Weg zurückgefunden hat …

Oder die Sünderin natürlich. Ich mache da keine Unterschiede. Zumindest gebe ich mir Mühe.

Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind das renitente Sterbliche, die sich aus der Verantwortung stehlen wollen. Die sich einreden, sie wären gute Menschen, so als hätten sie den Begriff gepachtet. Am besten, wenn sie dabei noch genüsslich ihren Champagner schlürfen, während andere ihre Hinterlassenschaften aufräumen. Natürlich lasse ich ihnen das nicht durchgehen. Ich beobachte sie, wie sie am frühen Abend durch die Straßen flanieren, dort wo die edlen Restaurants zwischen den Boutiquen und Maßschneidereien liegen. Wie sie sich kaum entscheiden können, auf welche Weise sie ihr ach-so-schwer-verdientes Geld aus dem Fenster werfen sollen – während ich nur darauf warte, ihnen ihre vergangenen Fehler genüsslich vor Augen zu führen.

Genau deswegen sitze ich nun hier, in einem Straßencafé am Rand der Prager Altstadt. Es ist ein angenehmer Abend, das Publikum geht gerade von den nachmittäglichen Einkauftrips über zum abendlichen Amüsement. Also genügend Material für mich, um in aller Ruhe meine Auswahl zu treffen.

Der alte Knacker, der dort drüben gelassen aus dem Hutladen tritt, die Schachtel mit seinem neuen Filzhut unter dem Arm? Er würde wohl kaum so zufrieden mit sich und der Welt dreinschauen, wenn er wüsste, dass er den morgigen Tag nicht erleben wird. Soll ich ihm sagen, dass ihn in weniger als zwei Stunden ein äußerst unangenehmes Zusammentreffen mit einer Straßenbahn erwartet? Das würde ihm sein Lächeln mit Sicherheit vom Gesicht treiben und ihn stattdessen dazu bringen, ein wenig über seine vergangenen Gaunereien nachzudenken … Aber nein, so einen hatten wir doch gerade erst.

Von der anderen Seite kommt ein junger Geschäftsmann dahergehastet, voll Sorge, dass er irgendeinen wichtigen Termin verpassen könnte. Seine Gedanken sind ganz bei seiner Arbeit – und bei den seltsamen Kopfschmerzen, die ihn seit einigen Wochen plagen. Ich könnte ihm verraten, was mit seinem Gehirn nicht stimmt; wie wenig Zeit ihm noch auf Erden bleibt. Nur ein paar Worte und ich würde den gehetzten Anzugträger wohl nachhaltig von allen Arbeitsgrübeleien abbringen …

Und die Mutter, die neben mir am Nachbartisch sitzt und ihre zwei ungezogenen Blagen dazu bringen will, ihren Eistee leerzutrinken, damit sie ihren Einkaufsbummel abschließen kann? Die hat heute Morgen einen harten Knoten in der linken Brust entdeckt. Noch ist sie nicht sicher, was die Schwellung zu bedeuten hat, aber ihre Gynäkologin wird sie bald genug darüber aufklären. Falls ich mich nicht entschließe, der Ärztin zuvorzukommen und der Mutter vor ihren Kindern die Wahrheit über ihren Zustand zu sagen.

Nun, vielleicht lieber nicht. Ich bin doch kein Unmensch.

Nachdenklich schlürfe ich meinen Espresso und trommele mit den Fingern auf den Tisch. Mein Blick schweift über die dahineilende Menge. So viele Sterbliche, so wenig Zeit. Dabei liebe ich es, mir mein nächstes Opfer auszusuchen. Diese erste Begegnung, wenn meinem Gegenüber klar wird, wer ich bin und was ich von ihm will … das langsame Begreifen in ihren Augen, das mühsame Nachrechnen der eigenen Sünden … Das ist genau meine Welt.

Ein heftiger Stoß trifft mich von der Seite und reißt mich fast vom Stuhl. Die Espressotasse fällt mir aus der Hand und zerschellt auf dem Pflasterstein. Was zum Teufel …

Mit gerunzelter Stirn wende ich mich um. Es ist der hastende Geschäftsmann, den ich auf der anderen Straßenseite bemerkt habe – der mit den Kopfschmerzen. Jetzt beugt er sich hinab und bemüht sich fluchend, die Reste meines Espressos von seinen weißen Socken abzurubbeln. Mich bedenkt er dabei mit keinem Blick.

Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. »Bloß keine Umstände", sage ich trocken.

Verwirrt schaut der Kerl auf. Er hat mich bisher kaum bemerkt – zugegeben, das kann bei unsereinem wohl passieren. Sein Blick schweift von mir zu der leeren Untertasse auf dem Tisch und weiter zu den Scherben neben seinem Bein. Dann lässt er ein abfälliges Schnauben hören, greift nach seiner Aktentasche und richtet sich wieder auf. »Passen Sie doch auf, wo Sie Ihren Kaffee verschütten!" Ärgerlich wendet er sich um und verschwindet im benachbarten Restaurant.

Ich bleibe zurück und sehe ihm mit einem schmalen Lächeln hinterher. Meine Damen und Herren, wir haben den Gewinner des Abends.

In aller Ruhe stehe ich auf, lasse ein paar Münzen auf der Untertasse zurück und folge dem unflätigen Kerl hinüber in den glänzenden Edelschuppen. Als die Kellnerin am Eingang mich fragend anschaut, nicke ich zu dem Gast, der drüben allein an seinem Tisch hockt, und mit einer einladenden Geste weist sie mir den Weg.

Abschätzend sehe ich mich um: freihängende Glühbirnen, bunte Nelken, die auf den Tischen in Halterungen aus Papier stecken – zu meiner Zeit hätte sich selbst ein drittklassiger Schuppen für diese Deko geschämt, aber nun protzt dieses Edelrestaurant offen damit. Meinetwegen, solange es den Gästen gefällt … Wobei sich der Anzugträger dort drüben kaum von der Umgebung beeindrucken lässt. Einsam sitzt er an seinem Tisch, der eigentlich für drei Personen gedeckt ist, und blättert in einem ledergebundenen Terminplaner. Vor ihm steht eine Dose mit Tabletten, von denen er sich gerade zwei in den Mund schiebt, um sie mit einem Schluck Wasser hinunterzuspülen.

Mit teilnahmsvoller Miene setze ich mich auf den Stuhl ihm gegenüber. »Kopfschmerzen?"

Ungeduldig hebt er den Blick. »Tut mir leid, aber hier ist kein Platz frei. Ich bin verabredet."

Zur Antwort hebe ich nur die Schultern. »Wer ist das nicht? Aber solange du noch wartest, kann ich dir genauso gut Gesellschaft leisten." Neugierig mustere ich den Kerl. Er ist ein Mittdreißiger mit kurzem Bärtchen und verwuscheltem Haar, wie es zurzeit wohl Mode ist. Zugegeben, gar nicht so unansehnlich – sofern man denn auf so etwas steht. Ich schenke ihm ein breites Lächeln. »Kristián, nicht wahr?"

Als er seinen Namen hört, zieht er die Augenbrauen zusammen. »Was wollen Sie von mir?", fragt er misstrauisch. »Sind Sie Journalistin?"

»So etwas in der Art. Man könnte sagen, es ist mein Job, schmutzige Geheimnisse ans Licht zu bringen. Du kannst mich Erika nennen." Immer noch lächelnd fahre ich mit den Fingern über das Tischtuch, während ich den arroganten Fatzke mustere. Immerhin habe ich seine Gedanken zum Teil von dem bevorstehenden Geschäftsessen abgebracht – stattdessen geht er im Geist alle größeren Zeitungen der Stadt durch und überlegt, wo er wohl genügend Strippen ziehen könnte, um eine drohende Schmutzkampagne zu unterdrücken. Wie zur Antwort schüttele ich den Kopf. »Keine Bange; was ich herausfinde, wird in keiner Zeitung landen. Ich habe andere Interessen. Wie deine Kopfschmerzen – du solltest deswegen wirklich mal mit einem Arzt reden. Oder deine Sorge, wie euer Treffen mit dem Mutterkonzern laufen wird. Ob du deine Gäste heute Abend so weit abfüllen kannst, dass sie dich bis zum nächsten Quartalsbericht in Ruhe lassen. Wo arbeitest du noch genau …" – ich mustere ihn durchdringend – »irgendeine alberne Schokoladenmarke, nicht wahr?"

Mit unbewegter Miene hat Kristián mir gelauscht. Er bemüht sich, sein bestes Pokerface zur Schau zu stellen – was ihm wohl besser gelingen würde, wenn ich seine Gedanken nicht mühelos durchschauen könnte. Schließlich verschränkt er die Arme vor der Brust. »Du bist keine Journalistin."

Ich schüttele den Kopf. »Nein, das bin ich nicht."

Mühsam versucht er, die Erinnerung zu haschen. »Du bist die Frau von draußen, oder? Die mit dem Kaffee." Er verzieht den Mund. »Ist es deswegen – weil ich dich vorhin angefahren habe? Bist du mir deshalb gefolgt?"

»Das spielt jetzt keine Rolle." Nein, wirklich nicht. Längst geht es um weitaus mehr. Ohne die Augen von Kristián zu nehmen, greife ich nach der Pillendose, die neben seinem Terminplaner auf dem Tisch steht. »Ich bin hier, weil ich einen Rat für dich habe. Eigentlich zwei. Den ersten habe ich dir schon gegeben: Du solltest zu einem Arzt gehen und herausfinden, wie lange du noch zu leben hast. Auch wenn ich fürchte, dass dir das Ergebnis nicht gefallen wird."

Ich sehe, wie etwas in seinem Blick umschlägt. Na endlich, langsam versteht Kristián, worum es hier wirklich geht.

Mit gerunzelter Stirn lehnt er sich zurück. »Und was ist der zweite Rat?"

Ich öffne den Mund zu einem breiten Lächeln. Das hier ist mein Lieblingsteil an der ganzen Sache. »Mein zweiter Rat ist folgender: Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich anfangen, über mein vergangenes Leben nachzudenken. Über all die verpassten Gelegenheiten, die falschen Entscheidungen – die Menschen, die du verletzt hast." Beiläufig drehe ich die Pillendose zwischen meinen Fingern. »Sag mir, Kristián, nach vierunddreißig Jahren: Was hast du in all der Zeit geleistet, das die Mühe wert war?"

Sein Gesichtsausdruck ist nun ernst, die Gedanken hinter seiner Stirn klar zu erkennen. Der Ärger über die unerwartete Störung, die Sorge wegen der Kopfschmerzen, die ihn schon seit mehreren Wochen plagen, dazu nun meine düstere Warnung … Von Freunden oder Familie lese ich da nichts, stattdessen grübelt er immer noch über das anstehende Geschäftsessen nach. Neben seiner Arbeit scheint es kaum etwas zu geben, wodurch der Kerl sich und seinen Erfolg definiert.

Zeit für den Gnadenstoß. Mit einem provokanten Grinsen beuge ich mich zu ihm vor. »Sag mir, Kristián: Hast du in deinem Leben irgendetwas erreicht, auf das du stolz sein kannst?"

Dieser Hieb hat gesessen. Stumm sitzt Kristián vor mir, die Lippen zusammengepresst. Nun ist der Samen gesät, der in den nächsten Tagen aufgehen soll – so lange, bis der Kerl schließlich voller Selbstzweifel und Schuldgefühle auf seine letzte Stunde wartet. Das Ganze war beinahe zu einfach.

Kristiáns Hand fährt über den Tisch, um mir die Dose abzunehmen und sie wieder vor sich abzustellen. Nachdenklich klopft er mit dem Zeigefinger auf den Deckel – dann hebt er den Blick und schaut mich über die Papiervase hinweg an. »Was für ein Blödsinn."

Fragend hebe ich die Augenbraue. Doch er scheint die Geste gar nicht wahrzunehmen. Er schüttelt den Kopf, den Mund zu einem Strich verzogen.

»Was immer du mir einzureden versuchst, es bringt nichts. Meine Arbeit macht mir Spaß – ich verdiene nicht schlecht und ich bin gut in dem, was ich tue. Ich weiß nicht, woher du diese Dinge über mich weißt oder was du mit alldem bezweckst, aber bei mir wirst du keine Schwachstelle finden. Ich fahre Elektro und für jeden Flug zahle ich einen gehörigen CO2-Ausgleich. An Ostern erst war ich in der Kirche und ich habe sogar so eine Patenschaft in Namibia abgeschlossen. Mein Gewissen ist so rein, wie es nur sein kann." Er hat sich nun auf seinem Stuhl aufgerichtet, das Kinn herausfordernd vorgestreckt. »Ich habe mir in meinem Leben nichts zuschulden kommen lassen!"

Entschlossen sieht Kristián mich an, ein selbstherrliches Funkeln in den Augen. Wäre er ein Pferd, so würden seine Nüstern wohl vor Erregung zittern. Sein ganzes Gesicht ist von ehrlicher Rechtschaffenheit verzerrt.

Ich erwidere seinen Blick unbewegt. »Ist das so?", frage ich knapp. »Nichts zuschulden kommen lassen?" Dass ich nicht lache. Dieser Kerl hält sich für einen wahren Heiligen.

Was für ein selbstgerechtes Arschloch.

Ich greife mir den Terminplaner, der immer noch neben seinem Teller liegt, und schlage ihn auf. »Leg das wieder hin", fährt Kristián mich an, doch ich beachte ihn gar nicht. Jede Seite des Buchs ist mit handschriftlichen Notizen gefüllt: Termine, Kommentare und hingekritzelte Ideen. Der Mann muss wirklich seine Seele hineingelegt haben.

Genau das, was ich nun brauche.

Mit einem Schlag klappe ich den Planer wieder zu und klemme ihn unter den Arm. »Den hier werde ich mitnehmen." Damit schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf.

»Oh nein, das wirst du nicht!" Kristián springt nun ebenfalls auf, nur um mit dem Kopf gegen die Glühbirne zu stoßen, die von der Decke hängt. »Ich weiß nicht, was du hier treibst, aber für diese Spielchen hast du dir ganz klar den Falschen ausgesucht!"

Es ist ein zu drolliger Anblick, wie er sich zwischen Tisch und Stühlen zu mir hindurchkämpft, das Gesicht voller Entschlossenheit. Er streckt den Arm aus, will meine Hand mit dem Buch darin packen – doch seine Finger rutschen ziellos ab; wie ein Nebelgespenst entrinne ich seinem Griff.

Kristián sieht mich begriffsstutzig an, ohne zu verstehen, was gerade passiert ist. Da klingen von der Seite Schritte herüber, freundliche Grüße sind zu hören. Die Partner, auf die er gewartet hatte, sind gekommen.

Keine Chance, dass er vor ihnen einen Aufstand machen wird.

Ich lächele noch einmal und winke ihm mit dem Kalender in der Hand zu. »Bis bald. Wir sehen uns!" Damit wende ich mich um und verschwinde durch das zunehmend gefüllte Restaurant, an Kellnern und fremden Tischen vorbei dem Ausgang entgegen.

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